Deutsche Werte – was ist das und gibt's die überhaupt?
Flüchtlinge bringen deutsche Werte in Gefahr, meinen Kritiker. Aber gibt’s die eigentlich? Philosophie-Professor Andreas Niederberger meint: nein.
Essen.
Bei jeder Erwähnung des Wortes „Flüchtling“ kommt reflexartig eine Reaktion von Rechts: „Unsere deutschen Werte sind in Gefahr.“ Aber welche sind das eigentlich? Wieso verwechseln wir so oft Werte mit Normen oder Tugenden? Und wie ist es um die vermeintlichen Werte in Deutschland eigentlich bestellt? Zusammen mit Prof. Andreas Niederberger, politischer Philosoph an der Uni Duisburg-Essen, versuchen wir, Licht ins Dunkel des Werte-Wirrwarrs zu bringen.
Was sind deutsche Werte – und gibt’s die überhaupt?
Nein, es gibt sie nicht. Prof. Niederberger meint: Werte wie Frieden oder Liebe gelten für alle Menschen. Sie sind dem Menschen vorgegeben, unabhängig von seiner Herkunft, meint der Philosoph. Die Idee der „deutschen Werte“ stammt aus dem Historismus des 19. Jahrhunderts. Damals wollte man sich von anderen Nationen absetzen – aber nicht durch Grenzen. Stattdessen wollte man diese Grenzen „volkskundlich“ legitimieren: Ein Volk wurde definiert durch seine spezifischen Wesenszüge, Werte, Aussehen, Geschichte, Sprache.
Was sind Werte, ganz allgemein?
Das zu erklären ist nicht einfach, weil Werte etwas Abstraktes sind. Werte geben Dingen ihren Wert, erklärt der Philosoph. Wenn Liebe ein Wert ist, sind die Menschen, die ich liebe, für mich wertvoll. Wenn Reichtum ein Wert ist, ist mir meine Luxuswohnung wertvoll. Das Problem: Werte werden oft mit Normen oder Tugenden verwechselt. Es gibt aber entscheidende Unterschiede.
Wo ist der Unterschied zwischen Werten, Normen und Tugenden?
Werte geben kein genaues Handeln vor – Normen schon. Tugenden dagegen zeigen sich darin, wie selbstverständlich Menschen bestimmte Dinge tun, die wir wertschätzen. Die Erklärung von Prof. Niederberger in Kurzform:
Werte geben den Dingen Wert – sie verbieten oder fordern aber nichts Konkretes, um sie zu erreichen. Sie geben keine bestimmte Handlung vor. Sie lassen sich nicht in Vorschriften oder Verbote übersetzen. Niemand kann bestraft werden, weil er Werte nicht teilt oder sie nicht anerkennt. Der Wert „Frieden“ zum Beispiel: Um das zu erreichen, worauf dieser Wert abzielt, kann im einen Fall der Einsatz von Waffen nötig sein, im anderen Fall nicht.
Normen bestimmen, ob und welche Handlungen richtig oder falsch sind. Sie werden durch Moralauffassungen oder in der Gesellschaft festgelegt, etwa als moralisches Gebot, Gesetz, Industrie-Norm oder Staatsform. Die Norm „Gleichberechtigung“ (s.u.) zum Beispiel: Sie gibt vor, dass Männer und Frauen gleiche Rechte genießen. Verstöße dagegen können geahndet werden.
Tugenden drücken aus, wie tief Moralität und „gutes“ Handeln in einem Menschen stecken. Tugenden beschreiben sozusagen die Handlungsweise eines Menschen: Mut, Klugheit, Pünktlichkeit, Fleiß, Genauigkeit, Sauberkeit. Die Tugend der Pünktlichkeit zum Beispiel (falls sie eine ist) zeigt sich erst, wenn jemand regelmäßig pünktlich ist.
Warum sind Normen so wichtig für eine Gesellschaft?
Normen halten die Gesellschaft zusammen. Sie sind Regeln und Verhaltensvorschriften, die unser Zusammenleben leiten. Sonst rasseln wir Menschen aneinander. Tun wir es trotzdem, regelt meist ein moralisches Gebot, ein Gesetz, eine Satzung, eine Gebührenordnung oder ein Richterspruch den Streit.
Ganz wichtig: Normen müssen, wenn sie das Zusammenleben tatsächlich bestimmen sollen, auch gesellschaftlich akzeptiert werden. Das ist in modernen Gesellschaften mit gegensätzlichen Interessen nicht einfach: Eine Norm ist ein ausgehandelter Kompromiss – und um den zu tragen, muss man sich (zumindest teilweise) von seinem eigenen Interesse lösen. Beispiel: Der eine will ein komplettes Tabakverbot, der andere will überall rauchen dürfen. Die ausgehandelte Norm liegt irgendwo dazwischen.
Allerdings sieht Prof. Niederberger gerade hier die Herausforderung tiefer Konflikte: Um sich an Normen zu halten, braucht der Mensch einen Grund. Er muss sie einsehen und anerkennen oder er braucht einen Anreiz. Warum sollte er sonst normgerecht handeln und auf seine Sicht der Dinge verzichten?
Wie entstehen Normen?
Prof. Niederberger erklärt es so: Normen sind eine Reaktion darauf, dass Moral-Vorstellungen nicht von jedem geteilt werden. Normen entlasten also die Moral. Wir müssen uns nicht ständig moralisch einig sein. Das macht viele Dinge leichter. Denn Menschen verfolgen unterschiedliche Ziele. Sie vertrauen gern ihrem eigenen Urteil – dadurch ist Streit vorprogrammiert. Am Ende ist es wie beim Fußball: Jeder wäre (wenn es nach ihm ginge) der beste Trainer.
Aber Normen verschieben sich immer wieder – sie müssen oft neu ausgehandelt werden. Schließlich verschieben sich auch die Ideale, Moralvorstellungen und wissenschaftlichen Erkenntnisse einer Gesellschaft. Sonst würden Ärzte noch immer Rauchen als Therapie empfehlen und Plakatwerbung für Zigaretten machen wie in den 40ern. Auch jetzt, mit rund einer Million Flüchtlingen im Land, werden unsere Normen neu verhandelt. Bebauungspläne werden angepasst, Satzungen erweitert, Vereine gegründet – und wir müssen diskutieren, wie unser Zusammenleben in Zukunft aussehen soll. Dabei mögen einige Kritiker Werte anführen, aber in diesen Werten selbst liegt keine Lösung der Spannungen. Und darin liegt auch nicht das Probelm.
Macht der Bezug auf Werte das Argumentieren gegen Flüchtlinge leichter?
Ganz sicher, meint der Philosophieprofessor: Wenn man sich auf abstrakte Werte bezieht, braucht man kein Faktenwissen über Recht und Gesetz. Man muss nichts erklären. Das macht es einfacher, Argumente gegen „Fremde“ zu finden, die diese „Werte“ vermeintlich bestreiten.
Allerdings, so Niederberger, zeigt diese Diskussion einen tiefen Konflikt in der Gesellschaft: Wenn Menschen glauben, dass Normen nicht ausreichen, um das Zusammenleben zu regeln, dann werfen sie Werte in den Ring. Oft beziehen sie sich (wie in der aktuellen Situation) auch auf Tugenden. Aber sind wirklich Dinge wie „unsere“ Zivilcourage oder „unsere“ Ehrlichkeit in Gefahr – wenn es doch gelebte Eigenschaften sind, für die jeder einzelne verantwortlich ist?
Freiheit ist für alle Menschen ein hohes Gut. Aber ein Wert ist sie strenggenommen nicht – sie ist eine Norm, meint Prof. Niederberger, denn sie bezieht sich darauf, wie Menschen ihr Handeln und Leben aufeinander abstimmen. Zwar gibt es keine Vorschriften darüber, wie man Freiheit erreicht. Aber es gibt festgeschriebene Grenzen. Wer einen anderen Menschen (außer auf der Grundlage des geltenden Rechts) einsperrt, wird dafür bestraft. Aber kann man bei Geflüchteten auch von Freiheit sprechen? Klar, es steht ihnen in gewissem Maße frei, zu uns zu kommen – aber nur, weil wir es ihnen erlauben. Machen wir die Grenzen dicht, dann genießen wir zwar weiter unsere Freiheit. Andere aber nicht. Da, so Niederberger, liegt ein tiefer Konflikt: Bedeutet Freiheit, dass ich tun darf, was ich will oder dass mir etwas nicht angetan werden darf?
Gleichberechtigung?
Natürlich ist auch Gleichberechtigung ein wertvolles Gut für viele Menschen. Aber sie ist vor allem eine Norm: Wer gegen Artikel 3 des Grundgesetzes (u.a.: Männer und Frauen sind gleichberechtigt) verstößt, sollte dafür bestraft werden. Aber blickt man auf gesellschaftliche Probleme wie häusliche Gewalt oder ungleiche Löhne für Männer und Frauen, dann könnte man sich fragen, wie weit es damit her ist.
Gerechtigkeit?
Gerechtigkeit ist eine Norm erster Güte: Sie regelt, wie Dinge verteilt werden. Wer bekommt wie viel Geld? Wer hat welche Chancen? Wer hat welche Rechte und Pflichten? Denn am Ende, so Prof. Niederberger, meint Gerechtigkeit meist Verteilungsgerechtigkeit. Zwar gebe es auch Gerechtigkeit als Wert – aber der („gerechte Welt“) gelte global für alle Menschen.
Demokratie?
Auch Demokratie ist nicht primär ein Wert, sondern eine Norm, erklärt Prof. Niederberger. Demokratie legt fest, dass jeder, der Gesetzen und Maßnahmen unterworfen ist, mit darüber entscheiden muss, welche Gesetze gelten und wer sie wie umsetzt. Gesetze, die nicht so zustande gekommen sind, sind illegitim – sie übern Zwang aus, ohne ihn rechtfertigen zu können.