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Carsten S. beschreibt Leben in der Neonazi-Szene als unpolitisch

Carsten S. beschreibt Leben in Neonazi-Szene als unpolitisch

Im NSU-Prozess hat Carsten. S das Leben in der Neonazi-Szene als spaßorientiert und unpolitisch beschrieben. Selbst als er eine Waffe mit Schalldämpfer besorgte, will er sich nichts dabei gedacht haben. Fragen der Verteidigung seines Mitangeklagten Ralf Wohlleben wollte er zunächst nicht beantworten.

München. 

Es sieht aus wie eine Demutshaltung: Carsten S. sitzt im Gerichtssaal, die blaue Kapuze tief ins Gesicht gezogen, um sich vor den Fotografen zu schützen. Er hat den Kopf gesenkt, den Oberkörper gebeugt. Direkt vor ihm steht Beate Zschäpe. Locker an einen Stuhl gelehnt plaudert sie mit ihren Anwälten, als wäre ihr Mitangeklagter Luft.

Sobald die Verhandlung beginnt, ändert sich die Rollenverteilung. Zschäpe schweigt, Carsten S. redet. An fünf Verhandlungstagen, mehr als 17 Stunden lang sagte er vor Gericht aus. Und noch immer sind Fragen offen. Der 33-Jährige ist der einzige Angeklagte im NSU-Prozess, der Aussagen macht und Fragen beantwortet. Holger G. hatte nur eine Erklärung verlesen. Alle anderen haben angekündigt, zu schweigen; die Verteidiger von Ralf Wohlleben wollen möglicherweise noch eine Erklärung verlesen.

Carsten S. brachte Ermittler auf neue Spur

Carsten S. hingegen sorgte für eine Überraschung. Er brachte die Ermittler auf eine neue Spur: Ein Rohrbombenanschlag in Nürnberg 1999 könnte den NSU-Terroristen zuzurechnen sein. Am Donnerstag übernahm die Bundesanwaltschaft offiziell die Ermittlungen. Bei allen vorherigen Überprüfungen ungeklärter Straftaten war der Anschlag in einer Gaststätte durch das Raster gefallen. Ohne Carsten S. wäre möglicherweise auch nie geklärt worden, woher die Terroristen des NSU ihre wichtigste Waffe bekamen.

Ausführlich erzählte S., wie Ralf Wohlleben ihn zum Verbindungsmann machte, nachdem Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe abgetaucht waren. Und wie er schließlich einen fatalen Auftrag ausführte und den dreien eine Waffe besorgte – aller Wahrscheinlichkeit nach jene „Ceska“ mit Schalldämpfer, mit der Böhnhardt und Mundlos neun Menschen ermordeten und deren Geschosse zur Signatur der NSU-Terroristen wurden.

Erotik statt Politik

Der 33-Jährige hat sich aus der rechten Szene gelöst. Vor allem, weil er gemerkt hat, dass er unter Neonazis nicht offen als Schwuler leben kann. Er hat sein Fachabitur gemacht und Sozialpädagogik studiert. Zuletzt arbeitete er bei der Aids-Hilfe in Düsseldorf. Wenn Carsten S. versucht zu erklären, wie er zum Neonazi wurde, geht es nicht in erster Linie um Politik. Es geht um Erotik.

Das Dunkle habe ihn immer schon fasziniert. Das Dritte Reich. Uniformen. Er erzählt, wie er auf einer Party Skinheads getroffen habe. Sie hätten sich gegenseitig die Glatzen rasiert. „Das war super. Das hat mir Spaß gemacht. Ich denke, da war auch eine sexuelle Komponente dabei.“

Im Detail kann Carsten S. erzählen, was er damals anhatte, in seiner Zeit als Neonazi: Rangerboots mit Stahlkappe, schwarze Hose, ein „hübsches Hemd“. Eine Barettkappe. Einen schwarz-weiß-roten Aufnäher auf der Jacke. Bei der Übergabe der Waffe: einen Pulli mit der Aufschrift „ACAB“ – all cops are bastards. Darunter ein „Troublemaker“-T-Shirt. Passend zur weißen Hose und den Turnschuhen von Adidas. Das weiß Carsten S. noch genau

„Afrika für Affen, Europa für die Weißen“

Wenn es aber um die politischen Motive geht, wird er einsilbig. Er sei „Nationaler Sozialist“ gewesen, hatte er in einer Vernehmung gesagt. Oberstaatsanwalt Jochen Weingarten will wissen, was er damit meinte. „National – für unser Land, und sozial“ – Carsten S. kommt ins Stocken – „für uns. Für die Gemeinschaft.“ Weingarten fragt, ob er Ausländer als gleichwertige Menschen betrachtet habe. Das sei nicht einfach zu beantworten, sagt Carsten S: „Das hat viel auch zu tun mit der Musik – Afrika für Affen, Europa für die Weißen, all sowas haben wir gesungen.“

Später versucht es ein Anwalt der Nebenklage. Er habe die Linken als Gegner bezeichnet, hält ihm Opferanwalt Detlef Kolloge vor. Was er mit dem Begriff „Linke“ verbinde?

„Linke“ als „Zecken“

„Damals haben wir Zecken zu Linken gesagt. Das waren klare Codes, so wie wir unsere Codes hatten. Bunte Haare, Aufnäher.“

Ob es irgendwelche Inhalte gab? Carsten S. erzählt von verschiedenen Kleidungsstilen.

„Was tun oder denken die, um ihre Feinde zu sein?“, fragt der Anwalt.

„Die sind gegen Nazis“, sagt Carsten S. „Stand ja auf ihren Aufnähern. Und bei uns stand auf den Aufnähern „Zecke verrecke!““

Wenn Carsten S. von seiner Neonazi-Vergangenheit erzählt, klingt es nach Alkohol und Musik, nach Spaß und Randale. Nazis, Linke – es könnten auch Fans verschiedener Fußballmannschaften sein. Nur dass am Ende zehn Menschen ermordet wurden, von den Terroristen des „Nationalsozialischen Untergrunds“ (NSU).

Und noch einsilbiger wird Carsten S., wenn es darum geht, was er sich dabei gedacht habe, als er den drei die Waffe brachte.

„Sind sie davon ausgegangen, dass die Waffe überhaupt zum Einsatz kommt?“, will ein Nebenklage-Anwalt wissen.

„Nein.“

„Warum haben Sie sie dann besorgt?“

„Ich weiß es nicht.“

Schlägereien und Angriffe auf Dönerbuden

Ansonsten schont sich Carsten S. nicht. Er berichtet von Schlägereien, von Angriffen auf Dönerbuden, von psychosomatischen Beschwerden. Und immer wieder beschuldigt er Ralf Wohlleben. Der frühere NPD-Funktionär war eine Art Mentor für Carsten S. Er habe die wichtigen Entscheidungen getroffen, er habe ihm gesagt, wo der die Waffe besorgen solle und ihm auch das Geld dafür gegeben.

Als Wohllebens Verteidiger am Donnerstag Carsten S. befragen wollen, stellt dieser aber eine Bedingung: Vorher müsse Wohlleben selbst aussagen. Es gehe um Waffengleichheit, sagt er. „Dass nicht nur ich mich nackig mache, sondern er auch.“ (dpa)