Im belgischen Ieper starben im Ersten Weltkrieg eine halbe Million Soldaten. Von 1914 bis 1918 verlief hier die Front, gleich im ersten Jahr wurde die Stadt völlig zerstört. Das „In Flanders Fields Museum“ lässt Besucher das Grauen nacherleben. Ein Ortsbesuch.
Ieper.
Minus 17 Grad zeigt das Thermometer in Ieper am Morgen des 1. Februar 1917 – dem letzten für Charles Snelling. Der junge Soldat stirbt an diesem Morgen auf einem eisigen Feld in Flandern, fern der irischen Heimat. Die Kugel, die ihn tötet, durchbohrt auch die Papiere in seiner ledernen Brieftasche: die Fotos von Frau und lachendem Kind, die Feldpost, die Snelling nicht mehr abschicken konnte. Es gehe ihm „relativ gut“ steht auf der Karte, die man der Mutter nach seinem Tod aushändigt.
Die Vitrine, in der Snellings Geschichte zu lesen und seine durchlöcherte Brieftasche zu sehen ist, steht in einem außergewöhnlichen Museum in einer außergewöhnlichen Stadt: dem „In Flanders Fields Museum“ im belgischen Ieper (Ypern). Hier, in der „Lakenhal“, der imposanten Tuchhalle der Stadt, wird der „Große Krieg“ erzählt aus der Perspektive derjenigen, die ihn erlebten. „Nur so“, sagt der Historiker Dominiek Dendooven (43), der das Museum mit aufbaute, könne man erklären, was Krieg wirklich bedeute.
Eine halbe Million Soldaten starb vor den Toren Iepers
Ieper selbst nennt sich heute Vredestad: Friedensstadt. Und ist doch einer der furchtbarsten Schauplätze des Ersten Weltkriegs. Der Ort liegt inmitten der alten Schlachtfelder, ist umgeben von Friedhöfen, von Gräbern so weit das Auge reicht. Von 1914 bis 1918 verlief hier die Front, gleich im ersten Jahr wurde die Stadt völlig zerstört. Die Bilder der brennenden Lakenhal gingen rund um die Welt. 500.000 Soldaten starben vor den Toren Iepers, noch heute bittet man am Menen-Tor allabendlich zum „Last Post“: dem letzten Zapfenstreich für die Gefallenen.
Und am Morgen toben Schüler durch den Schützengraben im Museum? Tun sie. Sollen sie vielleicht sogar. Spätestens an der Kinostation, wo ein erschreckend blasser Arzt in blutiger Schürze schildert, wie er die dritte Flandernschlacht, den unsäglichen Kampf um das unbedeutende Passendale, erlebte, werden die Jugendlichen ruhig sein. Wahrscheinlich früher. Die viersprachige Ausstellung, die über ein „Poppy-Armband“ jedem Besucher einen persönlichen Zugang ermöglicht und ihn mit vier maßgeschneiderten Biografien entlässt, kennt keine „Bitte Ruhe!“-Schilder. Sie fesselt lieber. Über jeden Sinn, der Sinn macht.
Landschaftsmodell beleuchtet den Horror der ersten Kriegsmonate
Einige Exponate sind im Boden versenkt, andere hängen von der Decke herab; manche sind versteckt in schwarzen Säulen. Über allem liegt ein unheilvolles Dröhnen, eine seltsam-düstere Musik, eigens komponiert fürs Museum, unterbrochen nur von vereinzelten Schüssen, entfernten Explosionen. Selbst in den kleinsten Schaukästen lauert Unerwartetes, Unglaubliches; das lustige Brettspiel „Der Völkerkrieg“ etwa oder Granathülsen, in die chinesische (!) Soldaten Drachen und Gedichte gravierten.
Ein animiertes Landschaftsmodell beleuchtet in rascher Folge den Horror der ersten Kriegsmonate: von der Invasion Belgiens über den „Kindermord“ im nahen Langemarck bis zum verheerenden Brand in Ieper. An anderen Stationen berichten historische Augenzeugen – dargestellt von Schauspielern – in Filmsequenzen über ihre Flucht oder das ungeheuerliche Weihnachtsfest 1914, als Soldaten, die einander töten sollten, gemeinsam feierten.
Referendare nehmen Ideen für den Unterricht mit
Und über „Ypérite“: Fritz Haber, Hauptmann und Chemiker, erklärt durchaus überzeugend, warum der Einsatz des Chlorgases richtig und wichtig sei. Selbst „der General hat keine (…) Bedenken“, schließt er. Dann erscheint der Gefreite Willi Siebert. Er war dabei, an jenem 22. April 1915, als in Ieper deutsche Truppen erstmals in der Geschichte eine chemische Waffe gegen den Gegner einsetzen. „Alles, was wir sahen, war tot“, beschreibt er die Wirkung des Gifts. „Alles. Sogar die Insekten.“
Viele Niederländer sind an diesem Tag hier, wie immer. Belgier natürlich, betagte Paare aus Paris, junge Briten auf „Battlefield Tour“. Aber auch Referendare aus NRW, angehende Geschichtslehrer aus Mönchengladbach. Viele Anregungen für den Unterricht würde sie mitnehmen, sagt Gina Filz (25). Aber nicht jeden Schüler herbringen. „Das ist mir an manchen Stellen zu heftig“, erklärt sie. „Aber so ist Krieg, darum geht’s gerade“, findet Freundin Sarah Hörig (26). Sie wird Ieper als Ziel für die nächste Fahrt des Geschichts-LKs vorschlagen. „Interessanter als immer nur Berlin“, glaubt sie. Fachleiter Björn Dexheimer, kommt seit Jahren her: mit Referendaren und Schülern. Weil sich die unter Erstem Weltkrieg „gar nichts mehr vorstellen können“.
Vor zwei Jahren wurde das „In Flanders Fields“-Museum generalüberholt
Vor knapp zwei Jahren wurde das „In Flanders Fields Museum“ aus eben diesem Grund generalüberholt. Vor 20 Jahren, sagt Dominiek Dendooven, seien die Besucher gekommen, um Erinnerungen oder Erzähltes bestätigt zu finden. Heute kämen sie, um zu lernen. 300.000 allein seit der Wiedereröffnung im Juni 2012.
100 Jahre nach dem Krieg wollte man zudem einem bislang vernachlässigten Zeugen des Geschehens mehr Raum gewähren: der Landschaft. Sie spricht Bände hier in Ieper, wo die Bauern beim Pflügen noch immer bleiche Knochen finden; wo gerade erst wieder zwei Männer starben, als ein Blindgänger detonierte.
Das letzte übrigens, was der Besucher sieht, wenn er das Museum verlässt, sind die Namen all der Kriege, die dem einen folgten, der alle anderen beenden wollte.