Gebraucht aussehende Möbel sind gefragt. Doch nicht jedes Produkt hat auch wirklich eine Geschichte. Experten raten daher zu Skepsis.
Landsberg/Lech.
Abgestoßene Kanten, gerissener Lack, verblasste Farben: Wenn ein Möbelstück nicht mehr ganz so frisch aussah, landete es früher in der Regel auf dem Sperrmüll. Heute gibt es viele, die gezielt nach solchen Tischen, Kommoden, Schränken, Vasen, Bilderrahmen und anderen Möbelstücken und Wohnaccessoires suchen, um damit ihr Zuhause einzurichten. Shabby-Chic (zu Deutsch: schäbiger Schick) heißt dieser Trend, der seit knapp zehn Jahren in Deutschland populär ist.
Anders als in den 80er- und 90er-Jahren steht beim Shabby-Chic nicht die optische Makellosigkeit eines Möbelstücks im Mittelpunkt. Im Gegenteil: „Shabby-Chic zelebriert das Unperfekte“, sagt die Trendforscherin Gabriela Kaiser aus Landsberg am Lech. „Dinge mit Macken, Kratzern, angestoßenen Ecken oder abgeschrubbten, ungleichmäßigen Oberflächen haben keinen Makel: Sie haben Charakter.“
Dass sich im Shabby-Chic das ästhetische Empfinden so radikal umkehrt, erklärt Kaiser mit einer zunehmenden Sehnsucht nach der sprichwörtlich guten alten Zeit: Das Streben nach Perfektion habe die Wohnwelt damals so futuristisch und aalglatt wirken lassen, dass sie ungemütlich, ja fast schon unmenschlich gewirkt habe, sagt die Trendforscherin.
An englischen Landhaustil angelehnt
Der „schäbige Look“ setzt hingegen auf das Gefühl von Behaglichkeit. Natürlich und rustikal wirkende Stoffe und Materialien wie Leinen, Baumwolle, Felle und Wolle tragen dazu ebenso bei wie Holz, Zink, grobes Porzellan oder Glas. „Der Stil hat sich in Anlehnung an den englischen Landhausstil entwickelt“, erläutert Einrichtungsberaterin Katharina Semling aus Oldenburg.
„Statt teure viktorianische Möbel zu kaufen, haben sich die Leute Schätzchen vom Flohmarkt zugelegt. Oft wurden auch alte Fundstücke weiß gestrichen und alte Stühle aufgearbeitet.“ Entsprechend greift der Shabby-Look Elemente des Viktorianischen Stils, Neobarock oder Rokoko auf. Doch nicht immer ist das, was alt aussieht, auch alt. Und nicht alles, was schäbig aussieht, auch Shabby-Chic.
Historie oft nur vorgetäuscht
Wie zum Beispiel abgeranzte Möbel aus den 80er-Jahren. „Die sind nicht kultig, sondern nur hässlich“, findet Ursula Geismann, Trendanalystin beim Verband der Deutschen Möbelindustrie in Bad Honnef. Auch für Ware, die industriell auf alt und schäbig getrimmt wird, hat sie nicht viel übrig: Bei dieser werde eine Historie nur vorgetäuscht. „Ich finde es komisch, etwas Neues zu kaufen, das auf alt gemacht ist“, sagt Geismann.
Auch hätten diese Dinge im Gegensatz zu echten Antiquitäten nichts mit Recycling und der Schonung von Ressourcen zu tun. „Das Ganze steht im krassen Gegensatz zur Intention des Shabby-Look: der Sehnsucht nach Authentizität, echten Materialien und einer eigenen Geschichte“, resümiert die Trendanalystin. Wer sich stilsicher im Shabby-Stil einrichten will, sollte daher keine Möbel und Accessoires vom Fließband kaufen.
Neben persönlichen Erbstücken lassen sich auf dem Dachboden und bei Haushaltsauflösungen, in Antiquitätengeschäften und auf dem Flohmarkt so manche Schätze heben, die nicht nur nach Geschichte aussehen, sondern in der Regel auch eine haben. Ob Küchenbuffets, Kommoden und Schränke aus Weichholz, gepolsterte Ohrensessel und Chaiselongues, Badewannen mit Löwenfüßen und hängende Spülkästen mit Kette oder Sammeltassen, Einmachgläsern und Kristallvasen: „Shabby-Look passt in jeden Raum“, sagt Geismann.
Blasse Pastelltöne kommen häufig zum Einsatz
Die Farbe ist dabei das verbindende Element im Shabby-Chic. Weiß, Beige und Creme gelten als Grundfarben. Akzente setzen mattes Grau und blasse Pastelltöne wie Mint oder Rosé. Wer seine Möbel selbst im Shabby-Stil gestalten will, sollte zu Farben greifen, bei denen die Grundierung schon enthalten ist, rät Wohnberaterin Semling. „Sie sind zwar teurer, aber das Geld lohnt sich. Man muss nur die Farbe auftragen und abwischen – und ist in einem Nachmittag fertig.“
Damit der Shabby-Chic das Wohnzimmer nicht in eine Zuckerbäckerei voller Pastellwolken verwandelt, empfiehlt die Wohnexpertin, die Zimmer nicht zu überfrachten. Freiraum, klare Formen und Strukturen helfen dabei ebenso wie einzelne moderne Stücke. „Ein Tisch mit glatter, weißer Oberfläche oder eine neongelbe Vase können hier erfrischend wirken.“
Dekor wie zu Omas Zeiten
Umgekehrt können aber auch schon wenige, dekorative Elemente wie alte Dosen in der Küche, getrocknete Blumen in einer Kristallschale im Esszimmer, ein zum Koffer umfunktionierter Beistelltisch oder handgestickte Kissenbezüge aus Großmutters Zeiten auf dem Sofa einer modern eingerichteten Wohnung ein Gefühl von Behaglichkeit verleihen. „Der Kontrast zum modernen Wohnbereich macht solche Einzelstücke zu Hinguckern“, sagt Gabriela Kaiser.
Übrigens, aktuelle Herstellerkollektionen zeigen, dass Dekor wie zu Großmutters Zeiten dieses Weihnachten voll im Trend liegt. Traditionell gestaltete Weihnachtsmann- und Rentierfiguren und verspielt-süße Engelchen finden sich ebenso im Sortiment wie das Räuchermännchen. Depot holt sogar wieder die Kugeln im Barockstil mit geschwungenen Ornamenten und die Vogelfiguren mit Glitzerbesatz in den Laden. Viele Firmen haben wieder mit der Produktion alter Baumdekorationen begonnen, die teils vor Jahrzehnten schon eingestellt wurden.