Auf den Tag genau vor fünf Jahren verschwand Tanja Gräff. Am 7. Juni 2007 kehrte die 21-Jährige nicht von einem Fest an der FH Trier zurück. Freunde starteten eine beispiellose Suchaktion, die Polizei wertete über 3000 Hinweise aus – ohne Erfolg. Der Fall lässt die Ermittler bis heute nicht los.
Essen/Trier.
Am 7. Juni um exakt 4.13 Uhr verliert sich Tanjas Spur. Zu diesem Zeitpunkt telefoniert die 21-Jährige vom Gelände der Fachhochschule Trier mit einem Freund, legt auf – und verschwindet. Fünf Jahre ist das jetzt auf den Tag genau her.
Wo Tanja Gräff heute ist, ob sie noch lebt – das ist unklar. „Wir gehen von einem Kapitaldelikt aus“, sagt Christian Soulier, Kriminalhauptkommissar und der leitende Ermittler in diesem Fall. Alles spricht für ein Verbrechen. Allein: Es gibt keinen Tatort und keine Anhaltspunkte darauf, was mit Tanja Gräff in jener Nacht geschah. „Dieser Fall“, sagt der 47-Jährige, „ist wirklich einmalig. Wir haben erstaunlich viel gemacht – und wissen erstaunlich wenig.“
Gruppe im „StudiVZ“ zu Tanja Gräff verbreitet sich rasend schnell
Und was nicht alles getan wurde auf der Suche nach der jungen Lehramtsstudentin: Knapp drei Tage nach Tanjas Verschwinden richtet die Polizei eine Sonderkommission mit mehr als 60 Ermittlern ein. Hundertschaften durchkämmen tagelang Wälder, Wiesen und Wege rund um die FH, es wird mit Hubschraubern und Wärmebildkameras gesucht, Leichenspürhunde übers Gelände und Taucher in die nahegelegene Mosel und Baggerseen geschickt – ohne Erfolg. „Irgendwann“, sagt Soulier, „sind Sie mit der Suche einfach am Ende.“
Auch das, was jenseits der polizeilichen Ermittlungen passiert, ist einmalig: Wohl nie zuvor hat in Deutschland ein Vermisstenfall so schnell die Runde über Soziale Medien gemacht. Freunde und Kommilitonen von Tanja Gräff gründen eine Gruppe im „StudiVZ“, dem damals führenden Netzwerk in Deutschland. Die Vermisstenmeldung verbreitet sich so rasend schnell durch die gesamte Republik. Die Freunde schalten auch eine Homepage zur Suche nach Tanja, verteilen Zehntausende Flugblätter in und um Trier – vergeblich.
3000 Hinweise und 800 Spuren
Tag für Tag, Woche für Woche vergehen, Tanja Gräff bleibt verschwunden. Nach Auflösung der Soko Anfang 2008 beschäftigt sich ein weiteres Jahr lang eine Ermittlungskommission aus 15 Polizisten mit dem Schicksal der Studentin. Seit Januar 2009 liegt der Fall allein beim zuständigen Fachkommissariat. „Wir sind da weiter dran“, sagt Christian Soulier. Noch immer gingen Hinweise aus der Bevölkerung ein, „nicht mehr so viele wie vor ein paar Jahren“, aber immerhin: vier bis fünf pro Monat. „Jede Woche wird hier noch über den Fall gesprochen“, sagt der Kommissar.
Gut 3000 Meldungen von potenziellen Zeugen seien insgesamt seit Juni 2007 bei den Ermittlern eingegangen, berichtet der 47-Jährige weiter. 800 Spuren wurden daraus angelegt, archiviert auf Computern und in unzähligen Aktenordnern. „Vier große Aktenschränke“ seien mit den Unterlagen zum Fall gefüllt, erzählt Soulier. „Unmengen Papier“ seien das.
Tanja Gräff fuhr mit Freunden zum FH-Fest
Alles was bis 4.13 Uhr am 7. Juni geschah, haben die Polizisten so weitgehend rekonstruieren können. Der Abend vor Fronleichnam 2007 ist lau. Mehr als 10.000 junge Leute feiern an der Fachhochschule Trier das Sommerfest. Auch Tanja Gräff. Um kurz nach 20 Uhr lässt die sich von ihrer Mutter vom Vorort Korlingen zu einem Treffpunkt mit Kommilitonen in Trier fahren. Mit einem Shuttlebus fährt die Gruppe gegen 23.30 Uhr aus der Stadt zum FH-Gelände. Dort verläuft sich die Clique in der Menge.
Letztes Lebenszeichen von Tanja Gräff um 4.13 Uhr
Gegen 4 Uhr trifft ein Bekannter Tanja ein letztes Mal auf dem Gelände. Er berichtet der Polizei später von einem ihm unbekannten Begleiter. „Lass Tanja in Ruhe“, soll der unwirsch zu ihm gesagt haben. Tanjas Bekannter verabschiedet sich, verlässt das Fest. Wer der Fremde war? Ist bis heute nicht geklärt. Um 4.13 Uhr dann das letzte Lebenszeichen: Tanja telefoniert mit einem Freund und kündigt an, sich auf den Weg in die Stadt zu machen. „Danach“, sagt Kriminalhauptkommissar Soulier, „reißen die Informationen ab.“
Einzelne Spuren gibt es auch für die Zeit nach 4 Uhr noch: Ein Mann, der gegen 5.30 Uhr einen Bauzaun abbaut, beobachtet einen Streit. Eine junge, rothaarige Frau – Tanja ähnlich – sagt zu einem jungen Mann „Pack mich nicht an.“ Ob es Tanja war? Möglich – aber nicht belegt. Andere Zeugen wollen eine junge, augenscheinlich benommene Frau an anderer Stelle mit zwei Männern gesehen haben.
Die äußeren Umstände sind für Zeugenaussagen mehr als ungünstig. Eine Studentenparty nach vier Uhr, viele sind alkoholisiert, müde, können sich im Nachhinein nicht mehr gut an die Nacht erinnern. Und im Partyumfeld haben viele junge Frauen eine gewisse Ähnlichkeit mit Tanja Gräff. „Was uns fehlt“, sagt Christian Soulier, „ist eine Kerninfo, mit der wir weiterarbeiten könnten.“ Auch Berichte bei „Aktenzeichen XY“ und dem Sat.1-Pendant „Ermittlungsakte“ bringen nicht die entscheidende heiße Spur.
Die enorme Bekanntheit des Falles hat unterdessen längst Verschwörungstheoretiker auf den Plan gerufen. Auf eigenen Internetseiten wollen sie „die Lüge von Trier“ aufdecken und verbreiten ihre Theorien von einem Mörder, der seit Jahren durch die Polizei gedeckt werde. Die Zusammenarbeit mit den Freunden und der Familie von Tanja sei sehr positiv verlaufen, lobt Ermittler Soulier. Übers „StudiVZ“ habe man in kürzester Zeit genau die richtige Zielgruppe – Studenten – erreichen können. Die Kehrseite, die „selbsternannten Internetermittler“ dagegen, seien problematisch. „Was da auf manchen Seiten über den Fall steht“, sagt der Kommissar, „ist Unsinn! Da stimmt nichts!“
Für Tanja Gräffs Mutter war „jeder einzelne Tag furchtbar“
Immer noch hat der Ermittler unregelmäßigen Kontakt zu den Freunden von Tanja Gräff, hofft auf den entscheidenden Hinweis. Hoffnung auf ein positives Ende der Suche nach Tanja hat er indes nicht. Fälle wie jener von Natascha Kampusch, in denen ein Vermisster nach Jahren wieder auftaucht, „sind ausgesprochen selten“, sagt Soulier. „Die Hoffnung stirbt zuletzt… Aber die Umstände von Tanjas Verschwinden sind so seltsam, dass wir einfach von einem Kapitalverbrechen ausgehen müssen.“
Tanjas Mutter Waltraud Gräff glaubt nicht mehr daran, dass ihre Tochter zurückkehren wird. „Jeder einzelne Tag war furchtbar“, sagt sie. Dem Jahrestag misst sie keine größere Bedeutung bei als den vielen Hundert Tagen seit dem Verschwinden ihrer Tochter. Tanjas Schicksal beschäftigt sie und ihren Mann Karl-Hans ohnehin jeden Tag. „Sie ist immer präsent“, sagt die Mutter. Im Zimmer der Tochter ist alles unverändert – wie an jenem Abend vor fünf Jahren, als sie es zuletzt verließ. (mit Material von dapd)