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„Sie kann nicht ehrlich lieben“

„Sie kann nicht ehrlich lieben“

Geldsorgen, Alkoholprobleme und eine lieblose Beziehung sind offenbar die Ursachen für die Familientragödie im niedersächsischen Ostertimke. Zwei tote Babys, gefunden auf einem Dachboden, mehrere zerrüttete Beziehungen und vier weitere Kinder, die in dieser Umgebung aufwachsen müssen, gehen daraus hervor. Seit Mittwoch beschäftigt sich ein Gericht mit dieser Tragödie.

Stade (dapd). Geldsorgen, Alkoholprobleme und eine lieblose Beziehung sind offenbar die Ursachen für die Familientragödie im niedersächsischen Ostertimke. Zwei tote Babys, gefunden auf einem Dachboden, mehrere zerrüttete Beziehungen und vier weitere Kinder, die in dieser Umgebung aufwachsen müssen, gehen daraus hervor. Seit Mittwoch beschäftigt sich ein Gericht mit dieser Tragödie. „Sie kann nicht ehrlich lieben“, wirft der Ex-Mann der wegen der Tötung der beiden Neugeborenen angeklagten Mutter zum Prozessauftakt vor.

Mit einem roten Aktendeckel aus Pappe vor ihrem Gesicht betritt die 43-Jährige den Schwurgerichtssaal des Landgerichts in Stade. Nachdem die Fotografen vom Vorsitzenden Richter aus dem Raum gewiesen werden, nimmt sie den Schutzschild ab. Zum Vorschein kommt eine schlanke Frau mit dunkelbraunen Haaren, dünnem Wollpullover und gemustertem Halstuch.

Als die Staatsanwältin die Anklage verliest, blickt sie leicht zitternd auf den Boden. Zwei Kinder, die sie in den Jahren zwischen 1996 und 2001 in der kleinen Ortschaft im Landkreis Rotenburg/Wümme zur Welt gebracht hat, soll sie direkt danach getötet haben. Unter Alkoholeinfluss habe sie einen männlichen und einen weiblichen Säugling in Mülltüten verpackt, auf den Dachboden ihres Hauses gebracht und sich nicht weiter um die beiden Babys gekümmert. Totschlag durch Unterlassen nennt das die Staatsanwältin.

Die Frau hat zu diesem Zeitpunkt bereits Beistand bekommen. Neben ihr sitzt ihr neuer Ehemann, mit dem sie einen zweijährigen Sohn hat und mit dem sie seit eineinhalb Jahren verheiratet ist. Unter dem Tisch halten sich die Eheleute an den Händen.

Als der Verteidiger im Auftrag seiner Mandantin eine Erklärung verliest, kommen ihr die Tränen. Die Vorwürfe treffen zu, heißt es darin. Sie habe damals viel Alkohol getrunken und nicht realisiert, schwanger zu sein. Zudem habe sie Angst vor ihrem damaligen Ehemann gehabt. Er soll nach der vorherigen Geburt eines Sohnes weitere Kinder wegen ihrer Alkoholsucht kategorisch abgelehnt und damit gedroht haben, sich andernfalls „einen Strick“ zu nehmen. Trotzdem bekam das Paar im Jahr 2003 noch eine Tochter.

Frau bekommt nach Baby-Tötung drei weitere Kinder

Die beiden gestorbenen Kinder hat sie demnach auf der Toilette im Badezimmer bekommen. Anschließend sind sie in Handtücher eingewickelt und in Müllsäcke gesteckt worden. Das erste Kind packt sie 1996 in eine Tasche, das zweite zu einem nicht näher bestimmten Zeitpunkt in eine Kühlbox. Der Gedanke an den Tod der beiden Kinder erfülle sie mit tiefer Trauer, heißt es zum Schluss der Erklärung. Unter Tränen hört sie den Sätzen ihres Anwalts zu.

Erst Ende Juni findet ihr Ex-Mann eine der Babyleichen beim Aufräumen des Dachbodens. Tags darauf entdeckt ein Spürhund der Polizei das zweite tote Kind. Das Paar ist zu diesem Zeitpunkt bereits geschieden und die Frau ausgezogen. Vor der Scheidung und der zweiten Heirat hat sie noch einen Sohn mit einem dritten Mann bekommen. Das Kind ist zur Adoption freigegeben worden. Seit Juli ist die Frau in einem Justizkrankenhaus untergebracht.

Ihr erster Ehemann und Vater der beiden toten Kinder spricht in seiner Aussage von wenig Liebe auf beiden Seiten. Von den beiden Schwangerschaften, die mit dem Tod der Säuglinge endeten, habe er nichts mitbekommen, weil er häufig beruflich unterwegs gewesen sei. Die Alkoholsucht seiner Frau sei ein latentes Problem gewesen, berichtet der 46-Jährige. „Das stimmt nicht“, kommentiert die Angeklagte seine Aussagen immer wieder ganz leise.

Als er mit schluchzender Stimme vom Fund auf dem Dachboden erzählt, kann auch seine Ex-Frau die Tränen nicht mehr zurückhalten. Der Prozess muss für 15 Minuten unterbrochen werden. Anschließend wirft er der Angeklagten vor, eine Scheinwelt aufgebaut zu haben. „Der Garten musste immer tiptop sein“, sagt der Landwirtschaftsgehilfe. Ende Januar soll die juristische Aufarbeitung der Familientragödie mit der Urteilsverkündung beendet werden.

dapd