Der „Eishexen“-Skandal zwischen Tonya Harding und Nancy Kerrigan sorgte vor 20 Jahren weltweit für Schlagzeilen. Jetzt kehrt das Opfer der berühmten Eisenstangen-Attacke bei Olympia in Sotschi zurück. Nancy Kerrigan kommentiert den Eiskunstlauf und steht im Mittelpunkt einer neuen Dokumentation.
Washington.
Wenn die amerikanischen Winter-Olympioniken in drei Wochen nicht mit Topleistungen glänzen sollten, nicht so schlimm, NBC hat vorgesorgt. Im Team des großen Senders, der die Spiele von Sotschi in die Wohnzimmer zwischen Atlanta und Alaska bringt, ist eine Frau, die für eine der höchsten Einschaltquoten in der olympischen Fernsehgeschichte gesorgt hat.
Nancy Kerrigan wird aus Russland aber nicht nur ihre Parade-Disziplin Eiskunstlauf kommentieren. Sie gibt auch in einer Dokumentation nach 20 Jahren zum ersten Mal umfassend Auskunft über eine der bizarrsten Sport-Attacken aller Zeiten.
6. Januar 1994. In Detroit trainiert die Elite der US-Eiskunstläuferinnen. Vorbereitung auf die nationalen Meisterschaften, die über die Olympia-Teilnahme im norwegischen Lillehammer entscheiden. Nancy Kerrigan, eine strahlende 24-Jährige, die für die „Los Angeles Times“ alle amerikanischen Ideale wie „Anmut, Unschuld, Würde“ verkörpert, ist auf dem Weg in die Kabine. Da geschieht das Unglaubliche. Ein Unbekannter versetzt der Athletin mit einer Metallstange einen brutalen Hieb auf das linke Knie und flieht. Ein Fan, ein Irrer? Niemand weiß es sofort.
Hinter der vorsätzlichen Körperverletzung stand ein Komplott
Die Verletzung ist so schwer, das Kerrigan auf die US-Titelkämpfe verzichten muss. Ihre ärgste Konkurrentin, Tonya Harding, gewinnt. Ein Sieg mit Haken. Sehr bald stellt sich heraus, dass hinter der vorsätzlichen Körperverletzung ein Komplott steht: Kerrigan sollte für Olympia gezielt kampfunfähig gemacht werden. So der Plan von Tonya Hardings Ex-Ehemann Jeff Gillooly und einem Kumpel. Sie rekrutieren Shane Stant für den feigen Akt. Harding streitet alles ab. Aber sie weiß davon…
Über Nacht wird „Skategate“ integraler Teil der Nachrichtensendungen. Und Eiskunstlaufen im Football- und Baseball-verrückten Amerika zum Massenthema. Amerika leidet mit, als Kerrigan an ihrer Genesung arbeitet. Experten reden sich die Köpfe heiß: Was ist aus dem Mythos geworden, wonach Kräftemessen im Sport doch fair und vorbildlich zu sein hat?
Traumquoten für „Eis-Hexe“ und „Eis-Prinzessin“ bei Olympia
Harding droht dem Eiskunstlauf-Verband mit einer 20 Millionen Dollar-Klage, falls man sie sperren würde. Sieben Wochen später sehen sich „Eis-Hexe“ und „Eis-Prinzessin“ auf olympischem Boden wieder. Einschaltquote 48,5 %, gigantisch. Sechster Platz in der ewigen US-Fernsehbestenliste. Noch gigantischer der Jubel, als Kerrigan, nur hauchdünn der Ukrainerin Oksana Bajul unterlegen, Silber holt. Tonya Harding wird Achte.
Geschieht ihr recht, denken viele. Und alle reden über den Krieg auf Kufen. Tom Collins, 30 Jahre Chef der US-Eislaufshow „Champions on Ice“:„Lillehammer hat das Eiskunstlaufen in die Stratosphäre katapultiert.“
Tonya Harding leistete 400 Stunden Sozialarbeit
Auf Tonya Harding wartete dagegen ein Alptraum, der bis heute anhält. Vor Gericht bekannte sich das 1,55 Meter kleine Kraftpaket schuldig, die Justiz bei der Aufklärung behindert zu haben. Sie zahlte 160.000 Dollar Bußgeld, leistete 400 Stunden Sozialarbeit. Titel wurden ihr aberkannt. Die Eiskunstlauf-Familie verhängte einen lebenslangen Bann über sie.
Was immer Harding, Tochter einer gewalttätigen Alkoholikerin und eines Gelegenheitsarbeiters, danach beruflich anfasste, es misslang. Preis-Boxerin, Pop-Sängerin, Schauspielerin, Moderatorin einer TV-Sendung, in der bizarre Kriminelle vorgestellt wurden. Harding rutschte immer wieder aus, hatte Ärger mit Behörden, Polizei und den falschen Männern.
Der Film „Skategate“ rollt den Fall aus der Täter-Perspektive aus
Heute lebt die 43-jährige Mutter eines dreijährigen Sohnes mit ihrem dritten Ehemann im abgeschiedenen Oregon an der Westküste. Der Sender ESPN hat einen Film gedreht, der „Skategate“ aus der Täter-Perspektive aufrollt. Die Aufnahmen heute zeigen eine gezeichnete Frau, die sich noch immer schwer tut, ihre perfide Mitwisserschaft in Worte zu fassen. „Für alle war es eine harte Zeit“, sagt Harding, sichtlich unwohl, „ich denke, dass Nancy und ich heute ein gutes Leben führen.“
Kerrigan? Stimmt. Mit Werbeauftritten für Campbell’s Suppen hat sie Millionen verdient. Mit ihrem Mann, dem früheren Sport-Agenten Jerry Solomon, und ihren drei Kindern lebt Nancy Kerrigan in der Ostküsten-Metropole Boston. Sie kümmert sich um ihre Mutter und leitet eine Stiftung für Sehbehinderte. Den Wünschen der Medien nach Interviews zwei Jahrzehnte nach dem Attentat entzog sie sich fast vollständig.
20 Jahre kein Wort miteinander gesprochen
„Attackiert zu werden, ist kein Grund zu feiern“, lässt sie ausrichten. Und dass sie sich auf Sotschi freue. NBC-Veteranin Mary Carlo ist es gelungen, hinter den Panzer der seelisch noch immer verletzten Kerrigan zu blicken, die mit ihrer Rivalin seit 1994 kein einziges Wort gesprochen hat. Der Film soll während Olympia ausgestrahlt werden. Es könnte wieder eine Rekordquote geben.