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Der Millionen-Verzocker

Der Millionen-Verzocker

Frankfurt. 

Als Jürgen Netzer den Jackpot am Spielautomaten im Schweizer Kasino St. Gallen knackt, ahnt er nicht, wie viele Millionen ihm da gerade in den Schoß gefallen sind. Auch als der Casino-Direktor mit einer Flasche Champagner kommt und von umgerechnet drei Millionen Euro spricht, realisiert Netzer nicht, was eben passiert ist. „Ich erinnere mich nur noch verschwommen“, sagt er heute, wenn er an jenen Tag im Jahr 2005 zurückdenkt. Andere Dinge sind dem inzwischen 38-jährigen Österreicher dagegen noch sehr präsent: Etwa, wie er fast das ganze Geld in bar auf den Beifahrersitz seines Autos legt, eine in Plastik eingeschweißte fast meterlange Stange. Oder wie er einen Porsche bar bezahlt.

„Ich hätte mir damals ein paar Tage Auszeit nehmen sollen, um zur Ruhe zu kommen“, sagt er im Rückblick. Und so dauert es weniger als ein Jahr, bis er den Gewinn – und noch einige 100 000 Euro mehr – wieder in den Schlitzen der Geldautomaten versenkt hat. Er hätte ausgesorgt haben können. Jürgen Netzer schüttelt den Kopf, und das Lächeln auf seinen Lippen hat einen bitteren Anstrich. Hätte er das ganze Geld angelegt, er hätte von den Zinsen leben können.

Hat er aber nicht. Heute leben er und seine Familie von österreichischen Sozialleistungen. „Ich war einfach nur süchtig“, sagt er, während er abwechselnd auf die Monitore seiner beiden Handys schaut und versucht, seine Nervosität mit Zigaretten zu bekämpfen.

Für den Fall, den Jürgen Netzer hinter sich hat, ist das Wort „tief“ um ein Vielfaches zu schwach. Und ob da jetzt bald ein Boden erreicht ist, soll das österreichische Landesgericht in Feldkirch entscheiden. Nämlich darüber, ob das Kasino in St. Gallen eine Mitverantwortung trifft. Ob sich die „Fürsorgepflicht“ einer Spielbank auf das Verteilen von Informationsbroschüren zum Thema Spielsucht beschränken darf, oder ob es neben einer moralischen auch eine faktische Pflicht gibt, jemanden, der offenbar alle Kontrolle verloren hat, vor sich selbst zu schützen. Netzer hat das Kasino verklagt, seit dem 15. Januar wird vor dem Landesgericht Feldkirch verhandelt.

Die Spieler-Karriere des Jürgen Netzer beginnt irgendwann in seiner Jugend in Vorarlberg. „Mit Kartenspielen hat es angefangen“, erinnert er sich. Nach seinem 18. Geburtstag betritt Netzer Anfang der 90er-Jahre zum ersten Mal ein echtes Kasino. Und wie das bei vielen Erst-Spielern der Fall ist, gewinnt er auf Anhieb beim Roulette und macht aus 1000 Schillingen schnell das Doppelte.

„Ich hab damals gesagt, das ist ja viel leichter als richtige Arbeit“, sagt er. Der Automechaniker-Lehrling geht von da an immer öfter in die Spielbank. Die Einsätze werden höher, Netzer nimmt Kredite auf – und verliert immer wieder alles.

Depressionenund Ruin

Es folgt eine Spieler-Karriere mit viel Tiefen und wenig Höhen – und auch eine Zeit der Abstinenz, in der sich Netzer berappelt und beruflich als Teilhaber einer Finanzberatungs-Firma Erfolg hat. Bis ihn eine Fortbildung nach St. Gallen führt, wo Kasino und Hotel unter einem Dach sind. Die Spielsucht hat ihn wieder – und nach anfänglichen Verlusten schlägt 2005 seine große Stunde mit dem Millionengewinn am Automaten — und dem rasanten Verlust. Es folgt der Absturz: Depression. Psychiatrisches Krankenhaus. Nicht mehr zu kaschierender Ruin. Verurteilung wegen Veruntreuung – die Haftstrafe von zweieinhalb Jahren schwebt wie ein Damoklesschwert über Netzer, der auf die Revision hofft.

Netzer meint, dass das Kasino erkannt haben muss, wie er sich um Kopf und Kragen spielte. „Die haben das gefördert. Sie haben mich bevorzugt behandelt, ich hatte sogar meinen eigenen Parkplatz.“ Netzer fordert deshalb 1,6 Millionen Euro Schadenersatz,