Christian Frommert war erfolgreich, sehr erfolgreich sogar. Und hatte ein paar Pfunde zu viel auf den Rippen. Erst als der 46-Jährige zur Ruhe kam, Urlaub machte, änderte sich sein Leben schlagartig. Auf 39 Kilo magerte er ab. Jetzt hat Frommert ein Buch über die Magersucht geschrieben.
Bensheim.
Anna ist immer da. In seinem Blick, in seinem Gesicht, an seinem Körper. Sie ist seine beste Freundin, und sie nagt an ihm. Sie frisst ihn auf. Anna ist die Anorexie, die Magersucht. Seit Jahren leidet Christian Frommert an dieser Krankheit. „Anna gewinnt immer“, sagt der 46-jährige Medien- und Kommunikationsberater. Aber er hat gelernt, Anna zu bändigen und die Stimmen in seinem Kopf zu überhören, die ihm sagen, dass er aufs Essen verzichten sollte und die ihn zum Sport treiben.
Es ist neun Uhr morgens. Frommert ist seit Stunden auf den Beinen, hat Gymnastik gemacht, war auf dem Trampolin, ist Rennrad gefahren, eine Stunde gelaufen. Der Mann aus dem hessischen Bensheim kann nicht anders.
Fahrt in dieSelbstzerstörung
Eine Bilderbuchkarriere kann der Journalist vorweisen, er war Chef vom Dienst bei der „Frankfurter Rundschau“. „Nimmt man mir die Arbeit, nimmt man mir den Lebensinhalt“, sagt Frommert, der damals rund um die Uhr im Einsatz ist und das Essen einfach vergisst. Frommert funktioniert und steigt auf in die Verlagsebene. 2005 wird er von T-Mobile nach Bonn abgeworben und verantwortet die Kommunikation im Bereich Sponsoring, unter anderem im Radsport fürs T-Mobile-Team um Jan Ullrich.
2006 muss er den Rauswurf des deutschen Vorzeige-Profis verkünden – Doping. Christian Frommert steht in der Öffentlichkeit, gibt Interviews, ist immer erreichbar und stets präsent. „Ich habe diese Rolle mit Leidenschaft gespielt“, erinnert er sich. 2007 muss er wieder ran, neue Dopingfälle: Patrik Sinkewitz und Serhij Hontschar werden aus dem Verkehr gezogen. Der Mobilfunkkonzern bremst sein Engagement im Radsport und steigt aus. Frommert wickelt alles ab, kündigt und wagt den Schritt in die Selbstständigkeit.
Zuvor gönnt er sich einen Urlaub, nach dem er sich seit Jahren sehnt: Doch die Reise nach Südafrika wird eine Fahrt in die Selbstzerstörung. Frommert verliert den Boden unter den Füßen. „Auf die viele Öffentlichkeit war ich vorbereitet, nicht aber auf die brüllend laute Stille danach“, blickt er zurück. Mit seiner Selbstständigkeit kamen die Existenzängste. „Es war so, dass ich mich bereits nutzlos gefühlt habe und dachte, dass keiner mehr etwas von mir will.“ In Südafrika sei ihm klar geworden, „dass ich jeden Cent, den ich ausgeben wollte, erst mal verdienen musste“.
Frommert treibt Sport und kann nicht mehr aufhören. Er bezwingt den Hunger, nimmt ab. Das Hungern wird zur Besessenheit. Jeder Sieg über den Hunger ist ein persönlicher Triumph. Dabei sieht Frommert den Jahre zuvor heimlich gelesenen Eintrag seiner langjährigen Freundin als Auslöser für alles. Der Christian, notiert sie, sei doch ganz schön dick. Tatsächlich wiegt der lange Frommert 140 Kilo.
Die Freundin geht für ein Jahr nach Australien, und Frommert schwört sich, dass er dünn ist, wenn sie zurückkommt. Das gelingt. Heute ist er allein: „Selbst wenn mir die Liebe ins Gesicht springen oder sich mir auf den Rücken binden würde, würde ich sie vermutlich nicht mal bemerken“, sagt er. Angst vor Nähe plagt ihn.
Frommert ist ziemlich gut darin, Menschen, die es gut mit ihm meinen, fern zu halten. Selbst, als er bei einer Größe von 1,84 Meter nur noch 39 Kilo wiegt und ihn ein Freund die Treppe hinauf zur Wohnung tragen muss, lässt er keine Hilfe zu. „Wenn mich meine Schwester und mein Schwager nicht beim Vormundschaftsgericht angezeigt hätten, um mich zu entmündigen, würde es mich jetzt nicht mehr geben“, sagt er. „Ich wäre nie in eine Therapie gegangen.“
Frommert kennt das Schicksal von Bahne Rabe, dem famosen Schlagmann des Deutschland-Achters von 1988. Bei Olympia in Seoul gewinnt der hünenhafte Ruderer Gold. 2001 stirbt Rabe in Kiel: Er hat sich selbst verhungern lassen. „Ich habe eine Reportage über Rabe gesehen“, sagt Frommert. „Und mich gewundert, wie jemand nur sein Essen abwiegen kann.“ Das fällt Frommert wieder ein, als er selbst an der Küchenwaage steht und 20 Gramm Müsli auf 15 reduziert. „Dass ich selbst an Nicht-essen sterben könnte, kam mir nicht in den Sinn.“
Vor drei Jahren hat sich Frommert endlich in eine stationäre Therapie begeben. Und heute weiß er nicht mehr, was er gerade wiegt. Und das ist gut so. „Ich habe klar entschieden, dass ich leben will“, verkündet er. In der Zwischenzeit hat er ein Buch geschrieben, als Aufklärer will er aber nicht gesehen werden: „Ich möchte die Magersucht aus der Anonymität holen und die Hilfslosigkeit der Außenstehenden darstellen, die furchtbar ist“, erklärt er. „Als Magersüchtiger spürt man das alles nicht, weil man ja leiden will. Auf der anderen Seite glaubt jeder, einen therapieren zu können, indem er eine Bratwurst rüberschiebt oder ein Stück Kuchen. Wenn die Leute verstehen, dass dies nicht die Lösung ist, nicht ansatzweise, wäre viel gewonnen.“