Eine lange unbeachtete Branche wächst an Rhein und Ruhr: die Medizintechnik. Insgesamt gibt es im Ruhrgebiet über 6500 Unternehmen, die in der Gesundheitswirtschaft tätig waren. Gezielte Förderung soll Innovationen beschleunigen.
Essen.
In den vergangenen Jahren haben viele Unternehmen den Medizintechnik-Standort NRW entdeckt. Das bevölkerungsreichste Bundesland galt lange als ungeliebtes Stiefkind der Branche. Zwar bildeten die hiesigen Universitäten Fachkräfte aus, diese wanderten aber in andere Regionen ab. Das hat sich grundlegend geändert. Branchenkennern zufolge hat sich NRW mit dem Ruhrgebiet, Südwestfalen, Aachen und Köln als dritter Standort neben Bayern und Baden-Württemberg etabliert.
Vor allem junge Unternehmen schätzen die Standortvorteile. Ein gutes Beispiel ist die Firma Snap in Bochum. Die Abkürzung steht für Sensor Basierte Neuronal Adaptive Prothetik. Das Unternehmen entwickelt Konzepte, um Prothesen mit der Kraft der Gedanken zu steuern – frei nach dem Motto: „Ich denke, also gehe ich.“
Infrastruktur und Absatzmarkt als Standortvorteile
Uwe Seidel, Geschäftsführer der Snap GmbH schwärmt: „Der Vorteil des Ruhrgebietes ist es, dass es hier eine sehr große Zielgruppe für unser Produkt gibt.“ Dass sich solche Firmen verstärkt in der Region ansiedeln, liegt an der günstigen Infrastruktur. Denn die Standortvorteile seien nirgendwo sonst in Deutschland zu finden – vor allem, wenn man den Blick auf ganz Nordrhein-Westfalen weitet.
NRW ist mit der höchsten Dichte an Krankenhäusern (404) und 17 Millionen Einwohnern ein lukrativer Absatzmarkt. Eine alternde Gesellschaft trägt dazu bei, dass die Nachfrage nach Medizintechnik steigt. Der Markt ist groß: In der Gesundheitswirtschaft existieren im Ruhrgebiet insgesamt 6564 Unternehmen. Dazu zählen neben den medizintechnischen Firmen vor allem Krankenhäuser und Pharma-Unternehmen. Der Jahresumsatz der Branche liegt bei über zwölf Milliarden Euro.
Der kleinste Teil davon geht zwar auf das Konto der Medizintechik-Unternehmen, Krankenhäuser sind aber oft deren Abnehmer. Das schlägt sich auch in Umsatzzahlen nieder. Von 20,4 Milliarden Euro, die bundesweit mit Medizintechnik umgesetzt werden, generieren die NRW-Unternehmen 2,3 Milliarden.
Wachstumspotenzial ist noch vorhanden
Nicht zuletzt aufgrund des großen Absatzmarktes sind auch viele Vertriebsunternehmen vor Ort präsent, wie Branchenführer Roeser Medical GmbH, der sich auf dem Gelände des ehemaligen Nokia-Werks niedergelassen hat.
Kleine und mittelständische Unternehmen sowie spezialisierte Forschungsinstitute wie die Fraunhofer sind leistungsstarker Innovationsmotor in der bildgesteuerten Therapie, in medizinischer Informationstechnik sowie bei Implantaten und Prothesen. Auch umsatzstarke Medizintechnikunternehmen wie Siemens oder 3M haben das längst erkannt, sind mit Niederlassungen vertreten.
Vom Wachstumspotenzial der Branche ist Oliver Lehmkühler, Manager des Exzellenzcluster Medizintechnik NRW, überzeugt: „Viele Unternehmen besetzen eine Nische“, sagt er, „durch solche Innovationen lässt sich Kompetenz in die Region holen.“ Zum Beispiel das Biomedizin-Zentrum auf dem Campus der Ruhr-Universität. Dadurch hätten sich mehr als 100 Forschungsunternehmen in Bochum angesiedelt.
Mit gezielter Förderung zum Erfolg
Auch gezielte Förderung trug zur Entwicklung solcher Erfolgsmodelle bei. Um die Vorhaben zu koordinieren, rief das Land NRW 2011 den Cluster Medizintechnik ins Leben. Dessen Ziel war, die mehr als 200 Unternehmen mit Forschungseinrichtungen und Kliniken zu vernetzen. So will die Landesregierung das wissenschaftliche und wirtschaftliche Umfeld der Medizintechnik fördern – auch durch Subventionen. Mehr als 55 Millionen Euro flossen in den vergangenen Jahren aus EU- und Landesmitteln in medizintechnische Forschungs- und Entwicklungsprojekte.
Auch das kleine Unternehmen Snap profitiert von dieser Politik. Der Forschungsbetrieb wurde 2010 gegründet und wird mit 1,5 Millionen Euro aus dem europäischen Strukturfonds gefördert. Wenn die Pläne von Uwe Seidel und seinen Kollegen gelingen, entsteht bei Snap die nächste medizintechnische Innovation Made in NRW. Die Sensortechnik, die die Bochumer entwickeln, soll nämlich nicht ins Gehirn implantiert werden. Sie liegt auf dem Kopf auf und misst von dort die Hirnströme, um die Prothese zu steuern.
Derzeit messen die Erfinder auf ihrem Versuchsstand noch elektrische Gehirnströme, die Druckverteilung des Fußes und die Winkelgeschwindigkeit der Gelenke. „Wenn es funktioniert, ist die Methode revolutionär“, sagt Seidel. Danach gilt es, einen Prothesen-Hersteller zu finden, der einen Prototyp entwickelt. In NRW sind sie dafür in bester Gesellschaft.