Wie Jungpolitiker das Ruhrgebiet sehen – ohne Stadtgrenzen
Jugend bewegt das Ruhrgebiet: Die Essenerin Annika Haak ist das jüngste Stadtratsmitglied der CDU im Revier. Jan Vogelsang (20) aus Mülheim ist der jüngste SPD-Ratsherr.
Mülheim/Essen.
Auf 20 bis 25 Stunden pro Woche schätzt Jan Vogelsang sein Engagement in der Politik. Der 20-Jährige aus Mülheim ist der jüngste SPD-Ratsherr im Revier. Ende 2015 übernahm er den Sitz von Ulrich Scholten, dem neuen Oberbürgermeister. Wenn seiner Generation vorgeworfen wird, dass er mit seinem Engagement eine Ausnahme darstellt, hält er dagegen: „Jugendliche haben doch oft keine Zeit mehr, sich für Dinge abseits der Schule zu interessieren“, sagt er. Vogelsang sieht vor allem in G8 ein großes Problem. „Es geht doch nur darum, dass jeder möglichst früh anfängt zu arbeiten. Freizeit bleibt auf der Strecke.“
Bei „jungen“ Themen mitreden
Auch die heutige NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft stellte sich in ihrem Wahlkampf 2010 gegen das Turbo-Abi. Mit 14 Jahren trat Vogelsang auch deswegen der SPD bei. Er war gerade vom Gymnasium an die Realschule gewechselt. Weniger Zeitdruck: Dort habe er erst „Lernen gelernt“. Dass sich an dem Beschluss nichts änderte, nachdem Kraft die Landesregierung übernahm, enttäusche ihn nicht. „Im politischen Alltag ist es nicht immer möglich, alles umzusetzen. Das habe ich gelernt.“ Dass Menschen deswegen die Nase von Politik voll haben könnten, kann er nachvollziehen. Aber: „Dass Prozesse oft mühsam sind, ist auch nicht nur schlecht. Es ist eine Art der Kontrolle.“
Wenn Vogelsang so spricht, könnte man dem jungen blonden Mann mit den hellwachen Augen vorwerfen, altklug zu wirken. Jedoch ist er sich seiner Jugend und der geringeren Lebenserfahrung gegenüber älteren Kollegen durchaus bewusst. „Auf kommunaler Ebene werden viele Themen besprochen, die auch Jugendliche betreffen. Ich finde es wichtig, dass wir dann auch mitreden.“ Mit Blick in die Zukunft sagt Vogelsang aber auch ganz klar: „Falls ich Politik irgendwann mal berufliche mache, muss und will ich vorher studiert und gearbeitet haben.“
Im Ruhrgebiet engagieren
Der Mülheimer macht zurzeit sein Abitur an einem Wirtschaftsgymnasium in Mülheim. Sein politisches Interesse passt zur Schule. Vogelsang sitzt im Wirtschafts- und Finanzausschuss. „Die Arbeit ist schon anspruchsvoll, aber man kann sich in alles einarbeiten“, sagt er. Nach der Schule möchte er Jura studieren. Am liebsten in Düsseldorf. So könnte er im Ruhrgebiet wohnen bleiben. „Und mich hier politisch weiter engagieren, das steht fest.“
Auf die Frage, was für das Ruhrgebiet in Zukunft am wichtigsten ist, hat Vogelsang eine klare Antwort: „Die Menschen im Pott sind schon eins – Politik und Verwaltung noch nicht. Wollen wir erfolgreich sein, muss sich das ändern.“
Annika Haak – CDU:
Annika Haak redet über ihre Heimat: das Ruhrgebiet. Die etwas schüchtern wirkende Frau spricht zwar ruhig aber bestimmt. Wie es im „Pott“ aussieht und es in Zukunft aussehen sollte, davon hat sie genaue Vorstellungen. Haak ist Studentin der Bio-Chemie, 23 Jahre jung und hat ein für ihr Alter eher ungewöhnliches „Hobby“. Annika Haak macht Politik. Die Essenerin ist das jüngste Stadtratsmitglied der CDU im Ruhrgebiet.
Die Politikverdrossenheit vieler Menschen, besonders junger Leute, erklärt sie sich zu Teilen so: „Etwa, dass im Ruhrgebiet jede Verkehrsgesellschaft ihr eigenes Ding macht. Wer soll verstehen, dass eine Bahn nicht von der einen in die andere Stadt fahren kann, weil das Schienensystem nicht zusammen passt?“
Kirchturmdenken als Knackpunkt
Das Ruhrgebiet müsse geschlossen auftreten, findet Haak: „Ich hoffe, das Kirchturmdenken erledigt sich in Zukunft von alleine.“ Wenn die Jüngeren erstmal in der Verantwortung stehen. Leute in Haaks Alter kennen keine Stadtgrenzen, ist sie sich sicher. Sie sehen das Ruhrgebiet als großes Ganzes.
Annika Haak ist seit 2010 Mitglied der Christdemokraten, Vorsitzende des Ortsverbandes Altenessen-Nord, im Vorstand der Frauen in der Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft (CDA) NRW und seit 2014 Ratsmitglied. Ihre politische Arbeit beginnt nach Vorlesungen und Seminaren an der Ruhr-Uni in Bochum. Jugendpolitik ist ihr Steckenpferd.
Seit sie 13 Jahre alt ist, arbeitet sie mit Kindern. Um Jugendliche für Politik zu interessieren, müsse man früh anfangen – die Werbetrommel rühren. „Wir sollten ihnen die Politik nahebringen und aufzeigen, dass nur wer sich einbringt, etwas bewegen kann.“ Davon ist sie überzeugt.
Migrationshintergrund ist normal
Haaks politisches Interesse wurde 2008 entfacht. Während des ersten Obama Wahlkampfs war sie für ein Auslandsjahr in den USA. „Auf einmal hatte jeder eine politische Meinung. In der Klasse war der Wahlkampf DAS Thema“, erinnert sie sich fasziniert. Hier sei das leider anders. „Viele Menschen interessieren sich erst, wenn etwas schlecht läuft“, bemängelt Haak und nennt die Flüchtlingskrise als Beispiel.
Jedoch hat sie Vertrauen in die Menschen im Revier. Sie beschreibt sie als einen herzlichen Menschenschlag. Direkt und geradeheraus. Sie mag das. „Wenn Integration gelingt, dann hier“, ist sie sich sicher. „Im Ruhrgebiet hat man Erfahrung mit Einwanderern. Und für meine Generation ist es ohnehin normal, dass viele Menschen einen Migrationshintergrund haben.“