Weihnachten vor 70 Jahren – die Hölle von Stalingrad
Weihnachten vor 70 Jahren: In den Bunkern von Stalingrad dämmerten die Reste von Deutschlands 6. Armee vor sich hin. Einige Zehntausend Zivilisten waren auch noch in der Stadt. Ein Wehrmachtssoldat und eine russische Mutter berichten.
Essen.
Am 2. Weihnachtstag des Jahres 1942 hadert Karl Nünnighoff mit der Wahrheit. Er sitzt in einem Bunker in Stalingrad und schreibt einen Brief an seinen Bruder Wilhelm. Es ist ein schwieriger Brief. Schon am 30. Oktober hatte er nach Hause gemeldet, Stalingrad sei praktisch in deutscher Hand.
Sein Bruder und seine Eltern sind es gewohnt, Feldpostbriefe mit launigen Berichten zu erhalten: Wie Karl sich in der Ukraine als Viehbauer versuchte. Wie man ihn für einen Frauenheld hielt, weil er an einem Tag 16 Mal Feldpost bekam. Und wie seine Division sich einmal „selbst einkesselte“, weil sie wieder viel zu schnell voranmarschiert war. Und jetzt? Wie sollte er das hier beschreiben?
Karl Nünnighoff, 32, ein Bäckergeselle aus Mülheim an der Ruhr. Dient in einer Artillerie-Batterie, die eineinhalb Jahre lang im Süden der Sowjetunion von Sieg zu Sieg geeilt ist, die nun aber mit der 6. Armee in den Dörfern nördlich von Stalingrad eingekesselt ist.
Nünnighoff hat von September bis November die heftigsten Kämpfe erlebt, ein Zeitzeuge beschrieb die Truppe schon im November als „ausgeblutet, völlig erschöpft und abgekämpft“. Vor Rynok, es ist eines der umkämpften Dörfer, ragen 4000 Holzkreuze aus dem Schnee, gezimmert für Leute aus Nünnighoffs Division.
In Karls Brief stehen nur Nettigkeiten
Und nun, am 26. Dezember, setzt er sich hin und erschöpft sich im Schildern von Nettigkeiten: Er schreibt über die warme Hose, die ein Kamerad ihm geliehen hat, als er in der Nacht auf Wache musste. Er schreibt über den bollernden Ofen, neben dem er sich aufwärmt. Er schreibt über sein Frühstück, das aus einer Tasse Kaffee und einem Stück Brot besteht.
Der Wendepunkt des Weltkriegs
Die Eroberung und Zerstörung der Stadt Stalingrad durch deutsche Truppen im August 1942 galt zunächst als weiterer Erfolg der 6. Armee. Doch am 22. November wendete sich das Blatt endgültig. Die Deutschen waren wie die letzten Bewohner der Stadt eingekesselt. Im Februar 1943 gingen 110.000 Soldaten in Gefangenschaft. Nur 5000 sollten überleben.
Im Sommer 1942 befahl Hitler den Angriff auf Stalingrad. Die Großstadt war wegen ihrer Rüstungsbetriebe und ihrer Lage an der Wolga strategisch interessant – und psychologisch aufgrund ihres Namens. Doch das Risiko war hoch: Für die Wehrmacht bedeutete das Ziel einen weiten Vorstoß durch die dünn besiedelte Steppe. Sowohl die Versorgung der Truppen als auch die Sicherung der Flanken war schwierig.
Hitler unterschätzte die Kräfte des Gegners, die eigenen überschätzte er. Die 6. Armee sollte Stalingrad erobern; im Frankreichfeldzug und 1941 bei der Eroberung der Ukraine hatte sie sich hervorgetan. „Mit der 6. Armee kann ich den Himmel stürmen“, soll Hitler gesagt haben.
Die 6. Armee war aber nicht nur kampfstark. Sie war auch beteiligt an dem Vernichtungskrieg gegen die sowjetische Zivilbevölkerung. Erschießung von echten und vermeintlichen Partisanen und „Kommissaren“, Misshandlung von Kriegsgefangenen und die Mithilfe beim Massenmord an Juden werden auch Teilen dieser Armee vorgeworfen. Ihr erster Oberbefehlshaber Walter von Reichenau, ein fanatischer Nazi, stachelte seine Leute zum Kampf gegen „das Untermenschentum“ im „Ostraum“ an.
Am 23. August legte die Luftwaffe Stalingrad in Schutt und Asche. Die Deutschen konnten große Teile der Stadt besetzen, doch die Sowjets hielten sich am Westufer der Wolga. Sie banden die Deutschen im Kampf um Landmarken wie das Getreidesilo, den Mamaj-Hügel oder das Traktorenwerk, brachen dann in ihrem Rücken durch und kesselten sie am 22. November ein. Nur anfangs wäre ein Ausbruch möglich gewesen. Doch Hitler untersagte ihn – und Oberbefehlshaber General Friedrich Paulus gehorchte.
Also kämpften die Deutschen weiter, unterstützt durch eine notdürftige Luftbrücke. Kälte, Hunger und der Mangel an Munition und Treibstoff zwangen sie, sich „einzuigeln“. Ein letzter Befreiungsversuch scheiterte an Weihnachten.
Die Kämpfe endeten Anfang Februar 1943. Von den rund 195 000 Deutschen im Kessel (dazu Rumänen, Italiener, Kroaten und Ungarn) waren etwa 60 000 tot. Rund 25 000 Verwundete waren ausgeflogen worden, etwa 110 000 Männer gingen in Gefangenschaft. Nur etwa 5000 von ihnen überlebten sie. Die sowjetischen Verluste waren noch höher: rund 320 000 Soldaten.
Viele Deutsche ahnten, dass diese Schlacht die Wende im Krieg bedeutete. Ihre Führung münzte das Menetekel um zum Mythos vom „Opfergang“.
Das wirkte auch nach dem Krieg fort: Der Verweis auf Hitlers Verrat an der 6. Armee eignete sich gut, um die Wehrmacht als Opfer des Naziregimes darzustellen – und nicht als dessen Werkzeug.
Er schreibt von den 40 Zigaretten und den drei Tafeln Schokolade, die es am Vortag als Weihnachtsration gab. Und wenn dieses Idyll doch einmal gestört wird, dann formuliert es Nünnighoff für seinen Bruder so: „Rings um uns herum knallt und bumst es.“ Es ist eine harmlose Beschreibung von Ereignissen, bei denen allein an Heiligabend 1200 Deutsche starben.
Nünnighoff schreibt weiter: „Am 25. Morgens griff der Russe an und brach auch in Kompaniestärke durch, dann war gleich bei uns Alarmbereitschaft gemeldet, da kannst Du Dir vorstellen, dass man da alle Weihnachtsgedanken verliert. Gegen Mittag war dann die Sache wieder ziemlich bereinigt.“ Alles nicht so schlimm in Stalingrad? Es ist ein Feldpostbrief wie so viele, geschrieben unter den Bedingungen der Zensur und um die Familie zu beruhigen. Aber die Schlinge um Karl Nünnighoff zieht sich zu. Er wird an Neujahr das letzte Mal schreiben und in Gefangenschaft sterben.
„Etwas eigenartig Schönes an diesem Fest“
Weihnachten in Stalingrad: Fast immer werden zu den Jahrestagen Sammlungen von Feldpostbriefen veröffentlicht. Nur leise wird darin das Grauen angedeutet, viel ist darin von Kameradschaft die Rede: Soldaten, die von ihren kargen Rationen etwas beiseite legen, um an Heiligabend was verschenken zu können. Soldaten, die aus Draht Weihnachtsbäume basteln, weil es in der Steppe kaum Holz gibt. Und Soldaten, die beim Singen von „Stille Nacht“ andächtig im Bunker verharren. „Es war etwas eigenartig Schönes an diesem Fest“, schrieb der Arzt Horst Rocholl nach Hause. Wenn es stimmt, dann ist auch die Hölle ein Ort, an dem es nicht allen gleich schlecht geht.
Unter den erwähnten Briefen von Karl Nünnighoff, die sich heute in der Sammlung des Museums für Kommunikation in Berlin befinden, ist auch einer von Ende Oktober, in dem Karl beiläufig erwähnt: „Die Zivilbevölkerung hat die Häuser räumen müssen, und wir haben sie uns zur gemütlichen Heimat gemacht.“ Wieder so ein Satz, der die Familie beruhigt haben wird – aber für Leute wie Agrafjona Posdnjakowa enthält dieser Satz ein schlimmes Schicksal.
Frau Posdnjakowa verliert alles – fast
Was die Frau, die bis zum Sommer als Köchin in der Küche der Stalingrader Stadtverwaltung gearbeitet hatte, seit dem Einmarsch der Deutschen erlebte, ist eine Geschichte des fortgesetzten Verlustes. Bei den schweren Kämpfen im September vertrieben die Deutschen sie aus ihrem Haus. Dann musste sie mit ansehen, wie das Haus in Flammen aufging.
Sie zog mit ihrem Mann und den fünf Kindern in einen Graben, eine jener Erdspalten, von denen es in der Stalingrader Gegend so viele gibt. Zehn Tage lebten sie unter freiem Himmel, dann traf eine Granate ihren Lagerplatz. Ihr Mann und eine Tochter starben, ein Sohn wurde verletzt. Posdnjakowa und ihre vier Kinder kamen in einem Keller unter, doch auch dort wurden sie von den Deutschen verjagt. Ende Dezember nun beginnen ihre Kinder zu hungern, da kommen ihr die zwei Eimer wieder in den Sinn.
Zwei Eimer mit Weizen hatte sie vor dem Einmarsch der Deutschen in der Erde vergraben. Sie sind jetzt ihr wertvollster Besitz, aber sie kommt nicht daran. Das Versteck liegt an der Hauptkampflinie. Posdnjakowa weiht einen Wehrmachtssoldaten und einen Gendarmen ein, nimmt sie als Geleitschutz mit und vereinbart mit ihnen halbe-halbe.
So zieht sie mit den Deutschen und ihrem Schlitten an der Hand durch die zerstörte Stadt. Als Sie in den Bereich sowjetischer Scharfschützen kommen, wird es den Deutschen zu gefährlich. Doch Posdnjakowa denkt an ihre Kinder, an den Weizen und vertraut darauf, dass ihre Landsleute nicht auf alles schießen, was sich bewegt. Sie geht weiter, gräbt das Getreide aus, lädt es auf ihren Schlitten und geht zu ihren Begleitern zurück.
Die Deutschen kümmern sich nicht um Zivilisten
Halbe-halbe, so war es abgemacht. Doch die Deutschen führen sie zur Militärverwaltung, wo sie alles abgeben muss. „Kein einziges Körnchen habe ich bekommen“, berichtet Posdnjakowa in einem Interview im Januar, nach dem Ende der Besatzung. Sie sagt auch: „In letzter Zeit war es so, dass sie selbst die Fladen wegnahmen, die man aus elenden brandigen Weizenkörnern gebacken hatte. Man kocht den Kindern was, zum Beispiel Pferdefleischsuppe, oder man lässt etwas Pferdefleisch übrig, schneidet es in kleine Stückchen statt Brot – selbst das haben sie mitgehen lassen.“
Untereinander mochten die deutschen Soldaten sich warme Hosen leihen und kleine Aufmerksamkeiten vom Mund absparen. Für die Einheimischen war der Tod durch Hunger und Erfrieren gerade gut genug.
150.000 bis 200.000 Menschen wurden damals wie Posdnjakowa nicht aus Stalingrad evakuiert, sondern lebten zunächst auf dem Schlachtfeld. Höchstens 30.000 waren es noch, als die Sowjets die Stadt befreiten. Agrafjona Posdnjakowa und ihre vier Kinder hatten es irgendwie geschafft, dazuzugehören.