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Verzweiflung statt Mutterglück

Verzweiflung statt Mutterglück

Berlin. 

„Endlich wird darüber geredet“, sagt Anne Schilling. Über Mütter, die ihre Kinder lieben und trotzdem sagen: Ich bereue es, Mutter geworden zu sein. Ich will mein altes Leben zurück. Es war ein Fehler. „Ich weiß nicht, wie viele Frauen in Deutschland so denken. Die wenigsten haben Kraft und Mut, das nach außen zu tragen. Aber es gibt sie, davon bin ich überzeugt.“

Schilling leitet das Müttergenesungswerk. Sie kennt die zweifelnden, die verzweifelten Frauen. Und sie ist froh über die Ehrlichkeit, mit der 23 Mütter im Interview mit der israelischen Soziologin Orna Donath über ihre Gefühle gesprochen haben. Die Studie über Mütter, die ihre Mutterschaft bereuen („Regretting Motherhood“), hat in Deutschland eine Debatte über Mutterglück und Mutterideale ausgelöst.

Viele Kommentare in den Netzwerken

„Ich hatte immer dieses weichgezeichnete Bild vom Muttersein in meinem Kopf“, schreibt die 31-jährige Jessika in ihrem Internetblog. „Und dann traf es mich wie der Schlag. Ich war nicht vorbereitet, auf das, was kam. Mir war nicht klar, wie sehr sich mein Leben verändert. Schon gar nicht, wie sehr ich mich verändere. (…) Mir wurde erst nachdem ich Mutter wurde wirklich klar, dass dieser winzige Mensch von mir abhängig ist und ich aus dieser Nummer nicht mehr rauskomme.“ Seit die israelische Studie in Deutschland die Runde gemacht hat, sind die sozialen Netzwerke voll mit Kommentaren von Frauen, die über die Licht- und Schattenseiten der Mutterschaft schreiben – das Ventil ist weit offen.

Gut so, sagt Anne Schilling: „In der Öffentlichkeit steht immer nur das Bild der ,guten Mutter’.“ Die Folge: Vielen Müttern fällt es schwer, über ihre Überforderung zu sprechen. „Wir haben ein Mütterbild, das nicht zulässt, dass man sagt: Ich kann nicht mehr.“ Eine Studie des Familienministeriums hat ermittelt, wie viele Mütter reif für eine Erholungskur wären: Zwei Millionen Frauen könnten sofort einen Kurantrag stellen, die medizinischen Voraussetzungen wären da. Nur ein Bruchteil tut es.

Umfragen zeigen regelmäßig: Mütter stehen unter Druck – von außen und von innen. Eine gute Mutter? Ist heute eine Alleskönnerin: Sie liebt, fordert und fördert ihre Kinder, sie lebt ihnen als „Working Mum“ ein modernes Frauenbild vor, sie ist ihrem Mann aufmerksame Partnerin und sieht blendend aus. Und sie muss trotzdem eine Enttäuschung verkraften: Die meisten Frauen starten mit dem Traum, dass sich Eltern Kindererziehung, Haushalt und Berufstätigkeit teilen – doch sind die Kinder da, fühlen sie sich wie im 50er-Jahre-Film. Sie stehen mit dem schreienden Kleinkind zwischen Wäschebergen und rücken ihrem Partner den Schlips zurecht, bevor der ins Büro verschwindet. „Viele Frauen sehen sich auf einmal in einer traditionellen Mutterrolle wieder“, sagt Schilling und warnt vor den Folgen der Desillusionierung.

Mutter-Kind-Ambulanzen helfen

Muttersein bedeutet nicht zugleich Mutterglück – auch wenn die Gesellschaft das erwartet. Einen Vorgeschmack darauf bekommen viele junge Mütter bereits nach der Entbindung: 50 bis 80 Prozent erleben den „Baby-Blues“, ein mehrtägiges Stimmungstief in den ersten beiden Wochen nach der Geburt. Bei mehr als jeder zehnten Frau entwickelt sich daraus eine Wochenbettdepression. Ursachen sind in der Regel die extremen hormonellen Umstellungen nach der Geburt und die plötzlich völlig neue Lebenssituation. Erschöpfung und Überforderung können aber auch Anzeichen für noch schwerwiegendere Probleme sein: Ein bis zwei von 1000 Frauen erkranken an einer nachgeburtlichen Psychose.

Hilfe gibt es an vielen Stellen – zum Beispiel bei den Mutter-Kind-Ambulanzen der psychiatrischen Landeskliniken in Dortmund und Herten: „Bei depressiven Episoden nach der Geburt sind die Behandlungsaussichten sehr gut“, sagt Ingrid Heinemann-Bond, leitende Psychiaterin der Mutter-Kind-Ambulanz in Dortmund. „Nahezu 100 Prozent der Frauen können anschließend ihre Mutterrolle annehmen.“