Wilde Trekkingtour: Auf dem Selvaggio Blu in Sardinien
Sie gilt als eine der härtesten Trekkingtouren Europas und als die vielleicht schönste. Der Selvaggio Blu, entlang der sardischen Steilküste.
Baunei.
Meine Fersen hängen über der Klippe, beide Hände umklammern das Seil, über die Schulter schaue ich hinab ins türkise Meer. 40 Meter unter mir tuckern Boote heran, Urlauber winken und jubeln auf ihren im Wasser dümpelnden Tribünen.
Ich atme tief, konzentriere mich auf den Rückwärts-Hopser über die Felskante, auf die Handgriffe beim frei schwebenden Hinabgleiten am Seil. Jetzt bloß nichts verbocken. Es ist die letzte und tiefste Abseilpartie, quasi das würdige Finale dieser Tour. Fünf Tage hat sie uns entlang des Golfo di Orosei geführt, durch die Wildnis einer Hunderte Meter hohen Steilküste, einem Weltnaturerbe im Osten Sardiniens. Als Selvaggio Blu wurde sie weltberühmt.
Heute gilt sie als eine der schönsten Trekkingrouten Europas. Und als die vielleicht härteste. Allein die Route zu finden, ist schwierig. «Der Selvaggio Blu ist kein festgelegter Weg», sagt Bergführer Ivan Pegorari. Es gebe viele Varianten, aber alle folgten der gleichen Philosophie: so nah wie möglich am Meer entlang zu gehen.
«Ich denke, das ist die wildeste Küste am Mittelmeer», sagt Pegorari. «60 Kilometer weit nichts als Natur.»
Die Liebe eines Bergführer-Lebens
Wohl niemand kennt den Selvaggio Blu besser als Pegorari. Der Bergführer aus der Lombardei ist ein Endvierziger im sehnigen Körper eines Mittzwanzigers. Seine fehlenden Haare überstrahlt er mit einem breiten Lächeln.
Seit 19 Jahren führt er Gäste auf dieser Tour, in seinem Tagebuch sind sie alle verewigt: mehr als 700 Namen. «Der Selvaggio Blu», sagt er, «ist mehr als eine Wanderung». Er ist die Liebe seines Bergführer-Lebens.
Gefunden hat er sie in einer Hütte am Strand. Genauer gesagt, in einem handgeschriebenen Buch. Dort las er von einer Route entlang der Steilküste, halb Wandern, halb Kraxeln, gewürzt mit einer guten Prise Abseilen. Und er fand Kopien von Karten. «Im Mai 1999 mietete ich ein kleines Boot. Ich fuhr die Buchten ab – und dachte: Mamma Mia!» An den Stränden versteckte er Wasserflaschen, dann lief er los, ohne Zelt. «Wir schliefen in Höhlen oder unter den Sternen.»
Ein zahmer Start ins Abenteuer
Heutzutage lässt sich der Weg bei vielen Bergreise-Veranstaltern buchen, inklusive Guide und täglichem Versorgungsboot. Auf eigene Faust loszuziehen, wäre extrem leichtsinnig – allein schon, weil es in den Kalkbergen des Supramonte kaum Wasserquellen gibt.
Der Startpunkt allerdings wirkt mäßig wild: ein Parkplatz unterhalb des Dorfs Baunei, zugestellt mit Autos und Vans. Die meisten kommen hierher, um an der Pedra Longa zu klettern, einer Felspyramide über dem Meer.
Unsere Gurte und Helme bleiben vorerst im Rucksack. Über einen Sandpfad wandern wir durch die Macchia. Steineichen krallen sich in Karstfelsen, an Mastixsträuchern hängen rote Beeren. Metallic-blaue Eidechsen huschen in Polster von wildem Rosmarin.
Querfeldein zum Fjord der Köhler
Je höher wir steigen, desto dichter wird der Wald. Bald geht es weglos querfeldein, auf einer Lichtung stehen aus Wacholderstämmen gezimmerte Unterstände von Hirten. Wir balancieren über Geröll, ducken uns unter Ästen hindurch, immer wieder bleibe ich mit dem Rucksack hängen. Zweige kratzen, Dornen verfangen sich in Hemd und Hose.
«Im letzten Sommer verschwanden zwei Wanderer», sagt Ivan Pegorari. «Sie wurden bis heute nicht gefunden. Wenn du dich hier verirrst, bist du erledigt.»
Der lange Abstieg endet an einem schmalen Fjord. Alle reißen sich die verschwitzten Shirts vom Leib und sinken mit Wonneseufzern ins klare, stille Wasser. Wir tauchen, prusten, schweben rücklings zwischen bleichen Felswänden und schauen hinauf zu den überhängenden Büschen.
Porto Pedrosu heißt dieser Fjord, früher wurde hier Kohle verladen. Bis vor wenigen Jahrzehnten fällten Köhler an dieser Küste Steineichen und verkohlten sie in grob gemauerten Meilern. «Alle Wege, die nach unten führen, wurden von Köhlern angelegt», erklärt Pegorari, «alle, die auf gleicher Höhe verlaufen, von Hirten.»
Pasta, Wein und Gesang – und eine Matratze
Als das Versorgungsboot einläuft, packen alle an, schleppen Vorräte, Zelte, Taschen mit Schlafsäcken und frischer Wäsche an Land. Und Pegoraris dicke Matratze. «Ich bin diesen Sommer vier Wochen am Stück hier», sagt er lächelnd und zuckt mit den Schultern.
Früher schliefen die Wanderer am Strand, obwohl das im Nationalpark auch damals schon verboten war. Aber es waren eben nur sehr wenige. Doch 2011 wurde der Selvaggio Blu schlagartig berühmt, als TV-Sender und das Magazin des italienischen Alpenvereins CAI berichteten. «An manchen Tagen zelteten hier 150 Leute», erzählt Pegorari. «Es war ein Chaos.»
Zusammen mit anderen Guides schlug er den Behörden Regeln vor. Vor sechs Jahren legte die Nationalparkbehörde Zeltplätze an, auf jedem dürfen maximal 40 Wanderer pro Tag übernachten. Wobei der Begriff Zeltplatz vielleicht ein bisschen hoch gegriffen ist.
Tatsächlich wurden auf im Wald verstreuten Parzellen das Unterholz gerodet und Steine geräumt. Je weiter ich mich vom Meer entferne, desto stärker riecht es nach Ziege.
Die Stimmung ist trotzdem bestens, spätestens als die Guides Pasta auf die Teller schaufeln. Dazu gibt es Wein aus der Plastikflasche. Und als Dessert packt Pegorari seine Gitarre aus.
Während die Norditaliener der anderen Wandergruppe klatschen und lauthals singen, lächeln die Deutschen scheu und schenken sich Mirto nach, den sardischen Mirtenlikör. Oder flüchten gar ins Zelt. Nun ja, es ist der erste Abend.
Aufgespießte Steine weisen den Weg
Am Morgen haben die Unverkaterten freilich gewonnen. Durch dicht stehendes Gebüsch steigen wir auf, es ist windstill, stickig, heiß. «Ich habe noch nie so geschwitzt», sagt Martina aus München, die mitwandert. «Ich gehe aber auch nicht in die Sauna.»
Ein paar Schweine preschen vom Pfad in den Wald, zottelige Ziegen starren uns aus sicherer Entfernung an. An manchen Felsen sind noch blasse blaue Striche zu erkennen, die originalen Markierungen. Heute weisen Steine den Weg, in Astgabeln gelegt oder auf Zweige gespießt.
Wir pausieren an einer Klippe, die Hunderte Meter senkrecht ins Meer stürzt. Die Brise und der Schatten sind ein Hochgenuss, der Blick entlang der Steilküste und hinab auf die Schattierungen von Türkis bis Dunkelblau ist fantastisch – und wird noch besser, als wir kurz danach auf eine Felskuppe treten.
Tief unter uns liegt die Cala Goloritze, die millionenfach fotografierte Traumbucht: gestufte, grün gesprenkelte Felswände, eine Flotte weißer Boote im Türkis, direkt über dem Strand die kolossale Felsnadel Aguglia, an deren Kalkwänden sich die Kletterer messen.
Beim Abstieg kommt uns eine Kolonne von Urlaubern in Badehosen und Bikinis entgegen, der Strand ist voll wie ein Freibad. Aber der Kies ist weiß und fein, das Meer klar, die Kulisse gigantisch.
Das Bierwunder in der Bucht
Am späten Nachmittag verlassen die Ausflügler die Bucht. Natürlich wäre es grandios, jetzt einfach die Isomatte auszurollen und hierzubleiben. Aber wenn ein Patrouillenboot der Polizei vorbeischaut, sagt Pegorari, bezahle jeder mehr als 200 Euro Strafe.
Ein Motorboot chauffiert uns deshalb zur nächsten Bucht. Und die Cala Mariolu ist ein sehr passabler Ersatz: ein Doppelstrand unter einer Felswand, geteilt von einem Kap. Die Ausflugsboote sind längst abgefahren, die Bucht gehört uns allein.
In einem Kiosk verkaufen ein Sarde und sein halbwüchsiger Sohn noch Bier. Ob es kalt ist? Der schmerbäuchige Sohn holt ein paar Dosen aus dem Kühlschrank, deutet wortlos auf das Eis am Rand und nickt.
Natürlich hat kein Bier je besser geschmeckt. Aber zu viele Dosen wären jetzt gefährlich. Denn nach dem Pastaschmaus müssen wir noch zum Zeltplatz oben auf den Klippen steigen – über schmale Felsbänder und wacklige Holzleitern. Mit Stirnlampe.
Hängepartie hinterm Felssturz
Wie abenteuerlich die Tour noch wird, ahnen wir spätestens am nächsten Morgen. An einer Geröllhalde müssen wir umkehren, ein Felssturz hat den Pfad weggerissen. «Der Weg ändert sich jedes Jahr», sagt Pegorari. «Im Winter regnet es hier viel.» Anders als offizielle Wanderwege wird der Selvaggio Blu nicht instand gehalten.
Ohne Bergführer würde es spätestens jetzt knifflig werden. Und die Schlüsselstelle des Tages kommt erst noch: das erste Abseilen.
Schritt für Schritt taste ich mich rückwärts Richtung Abgrund. Die eine Hand hält das Seil, das an einem knorrigen Wacholderstamm hängt. Die andere schiebt die Prusikschlinge übers Seil. Sie würde sich bei einem Sturz zuziehen. Selbst wenn ich das Seil losließe, kann also nichts passieren.
Trotzdem kostet es Überwindung, rückwärts über die Kante zu hopsen und langsam, Hand für Hand, in die Tiefe zu rutschen. Bald finden die Füße keinen Halt mehr, ich schwebe, drehe mich ohne Kontrolle, die Karabiner werden heiß. Ruhig bleiben, ermahne ich mich, weitermachen, Hand für Hand.
Elegant sieht das wohl kaum aus für meine wartenden Mitwanderer. Aber am nächsten Tag bekomme ich reichlich Gelegenheiten, Technik und Stil zu verbessern. Sieben Abseiler warten, der höchste am Schluss.
Das Einhaken und Sichern geht nun zügiger von der Hand, kein hektisches Verheddern mehr. Und das flaue Gefühl, die bange Nervosität weichen schierer Vorfreude. Mit einem Jauchzer surren wir abwärts, fast schon routiniert.
Von Höhle zu Höhle
Damit uns nicht fad wird, führen die Guides in eine Höhle. Tausende durchlöchern die Kalkberge des Supramonte. An einem einfachen Strick steigen wir rückwärts in den finsteren Schlund hinab, die Lichtkegel der Stirnlampen flackern über Stalaktiten.
Durch hüfthohe Spalten robben wir weiter, Höhle für Höhle – bis wir wieder Licht sehen. Und das Meer.
Als Lohn wartet die vielleicht schönste aller Buchten: Cala Biriola. Übermütig springen die jungen Italiener per Salto von einem Felsbogen ins Meer. Und als Ivan Pegorari ein letztes Mal seine Gitarre anschlägt, singen sogar die Deutschen mit.
«Ich habe hier die Milchstraße so klar gesehen wie nur in den Bergen Nepals oder Perus», erzählt der Selvaggio-Veteran und nippt am Mirto. «Wenn dann noch ein roter Mond über dem Meer aufgeht – puh.»
Selvaggio Blu
Anreise: Aus mehreren deutschen Städten gibt es Direktflüge nach Cagliari. Busse der Linie 103 fahren mehrmals täglich zur Haltestelle Tortoli Fra Locci, von dort geht es weiter mit der Linie 301 ins Bergdorf Baunei. Alternativ reist man im Zug nach Genua oder Livorno und nimmt die Fähre nach Olbia. Von dort fahren Busse der Linie 514 nach Nuoro und Busse der Linie 303 weiter nach Baunei.
Einreise: Es gibt keine Corona-bedingten Einreisebeschränkungen. (Stand: 31. August 2022)
Reisezeit: Die besten Monate sind Mai und Juni, wenn die Macchia blüht, sowie September und Oktober, wenn das Meer noch badewarm ist. Im Hochsommer ist es zu heiß zum Wandern, im Winter regnet es viel.
Guides und Veranstalter: Mehrere Bergreise-Veranstalter bieten den Selvaggio Blu inklusive Bergführer und täglicher Versorgung durch Boote an, zum Beispiel das Oase Alpincenter (www.oase-alpin.de). Italienischsprachige Touren mit Ivan Pegorari sind unter www.valmalencoalpina.com zu buchen.
Literatur: Der Rother Wanderführer Sardinien beschreibt mehrere Tagestouren, die Teil des Selvaggio Blu sind (16,90 Euro, www.rother.de).
Informationen: www.sardegnaturismo.it/de
(dpa)
*** Haben wir Ihre Reiselust geweckt? Aktuelle Angebote zum besten Preis finden Sie auf www.globista.de!