Hünxe.
Da kommen sie, manchmal Hand in Hand, manchmal wild gestikulierend, Thilo, der ein wenig hinkt, und Julian, der im Rollstuhl sitzt. Sie reden über Fußball und Sponsorenlauf, über Ausflüge und Ferien. Was Zehnjährige halt so tun auf dem Weg zur Schule. Die ist nur eine Viertelstunde entfernt. Noch. Thilo und Julian gehen im Dorf zur Schule. So wie die anderen Kinder der gut 5000 Hünxer. Vier Jahre lang hat funktioniert, was überall gefordert wird: die Inklusion. Alle Kinder in einer Schule.
Doch dieser Traum wird für Thilo und Julian im Sommer enden. Mit dem Ende der Grundschulzeit werden sie zu Fahrschülern, werden morgens früher aus den Federn müssen und mit dem Schulbus 20 Kilometer nach Oberhausen fahren müssen. Ihre Eltern haben versucht, die Kinder auch weiter im Dorf unterrichten zu lassen. Sie sind gescheitert. Das ist kein Einzelfall, eher ein Systemfehler:
Der Essener Bildungsforscher Prof. Klaus Klemm stellte jüngst fest: Jeder zweite Förderschüler sitzt mit seinen Altersgenossen in der Grundschulklasse. Nur jeder zehnte Förderschüler findet seinen Inklusionsplatz an Realschulen oder Gymnasien. Die Bildungsexperten wissen auch: Ein Schulsystem, das zwischen Haupt-, Real-, Sekundar-, Gesamtschule und Gymnasium trennt, trennt sich leicht von Schülern, die nicht zum Lehrplan passen.
In einem Gutachten für die Landesregierung arbeitete bereits vor fünf Jahren der Hannoveraner Pädagoge Rolf Werning den entscheidenden Widerspruch heraus: Aus Lehrersicht wird „auf der einen Seite die externe Überprüfung von Bildungsstandards – verbunden mit einer Erhöhung der Leistungsorientierung – vorangetrieben. Andererseits sollen verstärkte Anstrengungen zu mehr inklusiver Bildung umgesetzt werden. Bei der Austarierung der unterschiedlichen Ansprüche fühlen die Lehrkräfte sich jedoch allein gelassen.“
Der Markt ist leer gefegtbei den Sonderpädagogen
Bei Klaus Ginter, dem Leiter der Gesamtschule Hünxe, auf die Thilo und Julian gehen sollten, klingt das so: „Wenn ich Kinder an meiner Schule aufnehme, muss ich auch meine Hand dafür ins Feuer legen können, dass sie an meiner Schule bestmöglich gefördert werden.“
Im Gespräch mit den Eltern hat er deutlich gemacht, dass er seine Schule nicht für den richtigen Ort hält – und die Gesamtschule Hünxe ist voll ausgebucht. Denn auch das ist ein offenes Bildungsgeheimnis: Inklusion wird oft von den Schulen vorangetrieben, denen die Kinder ausgehen. Rechtlich gesehen, so Julians Mutter Susanne Klemp, müsste die Gesamtschule die beiden Jungen aufnehmen – aber ob damit Eltern und Schüler glücklich würden? Und zudem: Ein oder zwei behinderte Kind an der Regelschule – damit ist der Weg zur Ausgrenzung geöffnet.
„Ich habe jetzt schon bei meinen Schülern Anspruch auf 55 Stunden sonderpädagogischen Förderbedarf“, erklärt Ginter. „Aber ich habe nur eine Kollegin für Sonderpädagogik, die leistet 25 Stunden.“ Der Markt sei leer gefegt und eine bessere personelle Ausstattung nicht in Sicht.
Schon vor vier Jahren, bei der Einschulung von Thilo und Julian mussten die Eltern kämpfen. „Damals gab es halt noch die Kompetenzzentren“, sagt Grundschulleiterin Christiane Bungardt. „Das und das Engagement der Eltern hat vieles möglich gemacht.“ Sie steckte die vier Kinder mit besonderem Förderbedarf in eine Klasse – das ermöglichte den Einsatz eines eigenen Förderlehrers, sodass meist zwei Lehrer in der Klasse waren. Dazu kam ein ganzer Pool von Integrationshelfern, die Alltagsprobleme lösen: beim Toilettengang, beim Essen, auf Ausflügen und im Klassenzimmer. Hätte es das gefeierte „Leuchtturmprojekt“ nicht gegeben, wären Thilo und Julian vor vier Jahren auf einer Förderschule für geistig Behinderte gelandet. Der falsche Lernort, sagt der Förderlehrer. Denn in Deutsch beispielsweise kann Julian gut mithalten. „Auch, wenn er aufgrund seiner Behinderung nicht so schnell schreiben kann“, erzählt sein Vater Jens Klemp. Beim Rechnen sieht es schon anders aus: Dass Julian für jede seiner 25 Runden auf einem eigens für seinen Rolli gebauten Parcours zwei Euro eingefahren hat, weiß er noch. Die Gesamtsumme auszurechnen – dazu hat er an diesem Nachmittag keine Lust, will lieber mit Thilo reden.
Die Gemeinschaft zählt mehrals der Notenschnitt
In solchen Fällen werden Kinder „zieldifferent“ beschult: Noten spielen keine Rolle, der Abschluss auch nicht unbedingt. Die Gemeinschaft zählt mehr als der Notenschnitt. So wie in der Grundschule. Doch die Hünxer Gesamtschule, so Schulleiter Ginter, hätte bei der derzeitigen Personalausstattung vielleicht nur eine Stunde zusätzlicher Förderung pro Woche bieten können. Bei den Eltern ist das als Ablehnung angekommen, als böses Erwachen aus dem Traum von der inklusiven Schule.Vier Jahre lang haben sie mit Thilo und Julian den Traum von der Inklusion geträumt. Nun sind sie aufgewacht in der Welt von Personalmangel, Lehrplänen und Sachzwängen. Doch ist bei den Eltern Frust und Wut der Einsicht gewichen. „Vielleicht ist es so besser für die beiden“, sagt Susanne Klemp. „Als wir die Förderschule in Oberhausen besucht haben, sind sie sofort mit Begeisterung durch das Gebäude gegangen und haben gleich gesagt: Das ist unsere Schule.“ Gut für Thilo und Julian, schlecht für die Idee der Inklusion.