Die als „Oma Gertrud“ bekannt gewordene Schwarzfahrerin ist wieder frei. Das Wuppertaler Amtsgericht entschied, dass zunächst überprüft werden muss, ob die 87-Jährige überhaupt verhandlungsfähig ist. Der Gutachter fand sie „pfiffig“ – und sie fand einen Weg, nicht gleich wieder schwarz zu fahren.
Wuppertal.
Man könnte glauben, einer 87-jährigen Frau wäre es schrecklich peinlich, dass sie da an diesem Donnerstagvormittag als vermeintlich notorische Schwarzfahrerin vor dem Wuppertaler Amtsrichter sitzt, und die Kameras der Pressefotografen klicken unaufhörlich. Aber Gertrud F., die selbst ihr Anwalt Jan Eils nur „Oma Gerti“ nennt, so wie ein Boulevardblatt sie einst taufte, streicht ihr dünnes, struppiges Haar glatt, zeigt ein schmales Lächeln und sagt erstmal mit fester Stimme „Schönen guten Tag“ und „das ist ja vielleicht eine Ehre.“
Noch kann sie zwar nicht wissen, dass sie in etwas mehr als einer Stunde wieder auf freiem Fuß sein wird. Dem Gutachter, der sich bemüht hat, sie zu untersuchen, hat sie’s am Tag zuvor allerdings schon mal prophezeit.
Das Interesse an „Oma Gerti“ ist groß, lasst doch die arme alte Frau, seufzen natürlich auch ein paar Prozessbesucher vor dem Saal, und der Anwalt hat längst ein Spendenkonto für sie eingerichtet.
Sie bekomme 550 Euro Rente, hat sie mal einem Reporter erzählt und müsse 350 Euro Miete zahlen; Jan Eils mag das so nicht bestätigen, andere Zahlen nennt er aber auch nicht. Sie wurde vor langer Zeit geschieden, aber über ihr Leben wird man nicht mehr allzu viel erfahren, denn so weit kommt es im Prozess gar nicht.
Deutsche? Nein, Reichsdeutsche, belehrt sie den Richter
Ja, sie sei in Thorn geboren, bestätigt sie Richter Markus Schlosser, aber sie sei keine Deutsche, wie er behauptet, sondern „eine Reichsdeutsche. Das is’ was anderes“, belehrt sie ihn und wackelt mit dem ausgestreckten Zeigefinger mahnend herum. Als sie 1926 geboren wurde, lag die Stadt im polnischen Korridor zwischen dem Hauptteil des deutschen Reichsgebiets und Ostpreußen.
Dass sie schon zweimal in U-Haft saß, bis gestern in Gelsenkirchen, weil sie einen Verhandlungstermin geschwänzt hatte und an ihrer Meldeadresse in Ennepetal, wo ihr Sohn lebt, so gut wie nie auftaucht, das hat an ihrem Selbstbewusstsein offenbar nicht genagt.
Ein zierliches Persönchen ist sie, vielleicht 1,60 Meter groß, und sie wiegt vermutlich nicht viel mehr als die bonbonfarbene Steppjacke, in der sie versinkt. Aber kleinlaut ist Gertrud F. keineswegs.
Schon als der Staatsanwalt die Anklage vorlesen will, stöhnt sie: „Was für’n Aufwand.“ Stimmt allerdings, denn der Mann muss 22 Schwarzfahrten mit der Deutschen Bahn zwischen Februar 2012 und September 2013 aufzählen, in manchen Zügen hat sie wohl regelrecht übernachtet.
Immer wieder ermahnt man sie zur Ruhe
Die alte Frau redet auf ihren Anwalt ein, der Richter mahnt höflich zur Ruhe, sie redet auf ihren Anwalt ein, der Richter mahnt zur Ruhe, sie redet auf ihren Anwalt ein, der Richter gibt auf. Jetzt schweigt sie mal von selbst, schüttelt den Kopf und krakelt auf einem Schmierzettel herum, der eigentlich schon randvoll betextet ist. Wird sie das vorlesen wollen?
Nein, denn der Velberter Gutachter Ulrich Lange (64) leitet das vorläufige Ende des Prozesses ein. Der Neurologe und Psychiater hat sie in der JVA besucht, um festzustellen, ob sie denn überhaupt verhandlungsfähig ist. „Sagen Sie ja die Wahrheit, Herr Gutachter, nich’ lügen!“ ruft ihm die Rentnerin zu und fuchtelt schon wieder mit dem Zeigefinger herum.
Leider ist kein Geld für Champagner da
Seelisch und körperlich sei sie fit, holt Lange aus, sie sei auch nicht dement. „Sie haben Demenz!“ bekommt er zur Belohnung zu hören. Eine Freundschaft wird das wohl nicht mehr, zumal sie auch beim Geprächsversuch eher bockig reagiert habe. Lange attestiert ihr, dass sie „schon ganz schön pfiffig ist“, wohl aber auch unter Denkstörungen leide. „Sie ist überzeugt, dass arme Rentner nach Polen abgeschoben werden.“ Er könne nicht ausschließen, dass sie gar nicht verhandlungsfähig sei.
Eine gründliche Untersuchung soll in den nächsten Monaten die Antwort bringen; der Prozess wird ausgesetzt, Gertrud F. ist frei. „Ich würd’ euch am liebsten zu ‘nem Glas Champagner einladen“, ruft sie den Reportern zu und lacht, „aber dafür hab’ ich kein Geld.“ Hauptsache, es ist irgendwann mal Geld für eine Fahrkarte da. Eils’ Anwaltskollege bittet Gertrud F. in sein Auto. „Ich nehm’ Sie mit.“
Sicher ist sicher.