Jahresbilanz von „Sekteninfo NRW“ aus Essen: Verzweifelte Menschen vertrauen sich Scharlatanen an. Auch Scientology und die Zeugen Jehovas sind weiter aktiv.
Essen.
Eigentlich will er sich nur das Rauchen endlich abgewöhnen. Jahrelang hat er es vergeblich versucht, und dann kommt dieses verlockende Angebot eines Wunderheilers. Mit dem Versprechen, es innerhalb von drei Tagen zu schaffen. Dass dieser Mann aus dem Ruhrgebiet, verheiratet und Ende 50, sich nach dem dritten Termin erhängt, mag unglaublich klingen. Aber Anja Gollan ist Juristin und erzählt keine Märchen. Sie arbeitet beim „Sekteninfo NRW“ in Essen. Und dort schlagen die kleinen und großen Tragödien auf. Von Menschen, die den Halt verlieren, sich dubiosen Gruppen anschließen oder zu Opfern skrupelloser Geschäftemacher werden.
„Die Zahl der Beratungsfälle steigt“, sagte gestern Jürgen Weber, der Vorstandsvorsitzende mit Blick auf den Jahresbericht 2014, den 30. der Einrichtung, die vom Land gefördert, nach eigenen Angaben aber auch auf Spenden angewiesen ist. Mehr als tausend Menschen suchten Rat bei Psychologen, Theologen und Juristen im Haus, wie viele in ihrer Verzweiflung gar nicht erst so weit kommen, darüber lässt sich nur spekulieren. Dass die Esoterik boomt, überrascht Weber nicht: „Immer mehr Menschen treten aus den traditionellen Kirchen aus, da muss für manche ein Glaubensersatz her.“
Scharlatanerie wurde zu Schwerpunkt in Essen
Die wachsende Zahl sogenannter Wunderheiler ist mittlerweile zu einem Schwerpunkt der Arbeit in Essen geworden. Die Leichtgläubigkeit der Kundschaft mag in manchen Fällen erheiternde Komponenten haben. Etwa wenn eine selbst ernannte Heilerin nach einer düsteren Gesundheitsprognose am nächsten Tag gleich ihren Ehemann vorbeischickt, der zufälligerweise Versicherungsmakler ist und ein paar passgenaue Produkte anbieten kann.
Doch für die Betroffenen der Scharlatanerie ist gar nichts lustig. „Gesunden Menschen werden mit falschen Diagnosen Krankheiten eingeredet, und damit entstehen natürlich auch massive Ängste“, stellt Sabine Riede klar, die Geschäftsführerin. Der Fall des Rauchers, der sich wohl deshalb das Leben nahm, sei sicherlich drastisch. „Aber die psychischen Folgen bei den anderen“, so Riede, „sind ebenfalls schwerwiegend.“ Oft genug werden Verzweifelte zu Opfern, die keinen anderen Weg mehr sehen als nach kuriosen Problemlösungen zu suchen.
Der Begriff „Therapeut“ ist nicht geschützt
Rechtlich sei da oft nicht viel zu machen, räumt Anja Gollan ein, schon weil der Berufsbegriff „Therapeut“ nicht geschützt sei. Betrugsfällen könne man freilich nachgehen.
Als gewichtigen Einflüsterer hat Sekteninfo NRW den Troisdorfer Diplompsychologen und Seminaranbieter Robert Betz ausgemacht, der rund 400 000 Bücher mit Titeln wie „Zersägt eure Doppelbetten“ und „Willst du normal sein oder glücklich?“ verkauft hat und sich als Lebenshelfer anpreist. Das Geschäft geht gut: Der 61-Jährige will demnächst ein Seminarzentrum auf der griechischen Insel Lesbos eröffnen.
Ehefrau sagte, sie stehe mit Engeln in Kontakt
„Wir hatten allein dreißig Fälle, die mit ihm zu tun hatten“, sagt die Diplompsychologin Uta Bange. Kritiker verstehen Betz’ Thesen als Appell zum Egoismus und zur sozialen Gleichgültigkeit. Bei Sekteninfo NRW klagte unter anderem ein 44-jähriger Familienvater, dass seine Frau nach einem sogenannten „Transformationsseminar“ von ihm nichts mehr wissen wolle. Sie stehe mit Engeln in Kontakt, habe sie gesagt, und die Verbindung zu ihm passe nicht mehr. Auch der Ton zu den Kindern habe sich massiv verschärft.
Doch es sind nicht nur die Wunderheiler, die Sabine Riede und ihren Mitstreitern Kopfzerbrechen bereiten. Auch die Zeuge Jehovas seien wieder aktiver, Scientology sei zwar nicht mehr so aggressiv, aber immer noch da, und die Zahl der fundamentalistischen Christengruppen in Deutschland sei auf mittlerweile 400 gestiegen. Darunter viele wie die „Zwölf Stämme“, die ihre Kinder von der Außenwelt abschotteten, nicht zur Schule schickten oder massiv züchtigten. Auch der Salafismus sei erstmals ein Thema gewesen. Weil eine Mutter gefragt habe, was sie tun könne: „Meine Tochter hat sich in einen Salafisten verliebt.“