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Kennzeichen Heimatliebe

Kennzeichen Heimatliebe

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Foto: Ingo Otto / FUNKE Foto Services
WIT, WAT, CAS und Co.: Seit Ende 2012 sind die 1975 abgeschafften Nummernschilder wieder erlaubt. Heute fahren schon 134 000 Autos damit durchs Ruhrgebiet.

Essen. 

Mehr als 40 Jahre danach sollte doch zusammengewachsen sein, was seit der Gebietsreform 1975 verwaltungstechnisch vereint wurde: Bochum mit Wattenscheid, Moers und Dinslaken mit dem Kreis Wesel, Castrop-Rauxel und Gladbeck mit dem Kreis Recklinghausen oder Witten mit dem Ennepe-Ruhr-Kreis. Doch das Gegenteil ist der Fall. Seit 2012 dürfen Autofahrer eingemeindeter Städte wieder die alten Kennzeichen nutzen, und sie tun es gern. Im Januar waren in den Ruhrgebietsstädten gut 134 000 Autos, Lkw oder Busse mit den alten Kennzeichen unterwegs, landesweit waren es 417 167.

Alter Kampfgeist für WAT

Klaus-Peter Hülder (73) ist Wattenscheider mit Leib und Seele. Seit den frühen 1970er-Jahren hat der Gründer der Unabhängigen Wähler-Gemeinschaft (UWG) mit allen politischen und juristischen Mitteln versucht, die „feindliche Übernahme“ der Stadt durch Bochum zu stoppen oder rückgängig zu machen. Ende 2012 tauschte er schleunigst das ungeliebte „BO“ am Auto gegen „WAT KP 412“ ein.

Ab dem 14. November, 6 Uhr früh, standen die „WAT“-Liebhaber Schlange für das neue alte Kennzeichen, bis Neujahr waren mehr als 2000 erteilt. 2016 gab es 10 592 „WAT“-Fahrzeuge; vielen Eignern war der Wechsel die 80 Euro wert.

„Das ist nicht nur Älteren wichtig“, weiß Hülder, viele Junge nutzten die Chance, Flagge zu zeigen. Gefragte Kombis sind „WAT – IS“, „WAT – NU“, „WAT – SG“, selbst: „WAT – BO“. 187 „WAT“-Autos sind in eine andere Stadt gezogen.

CAS und GLA an jedem dritten Auto

In Castrop-Rauxel (73 000 Bürger) und Gladbeck (74 000) trägt fast ­jedes dritte Auto am Ort die alte „Heimat“. Beide Städte landeten 1975 unfreiwillig im Kreis Recklinghausen, seit 2012 ist die Distanz auch sichtbar: 15 206 der 49 597 in Castrop gemeldeten Fahrzeuge fahren unter der Flagge „CAS“ (30,6 Prozent), 13 518 von 46 425 (29,1) zeigen ein „GLA“.

Das hätten die 5000 Einwohner im malerischen Henrichenburg am Kanal auch gern gehabt, sie ­blitzten aber ab: Ein Kennzeichen „HEN“ gab es auch vor 1975 nie, neue werden nicht zugelassen.

HAT gab es nie, WIT ist zurück

Enttäuscht wurde auch Hattingen. 2012 stimmte der Rat der 56 000-Einwohner-Stadt frohgemut dafür, das „EN“ für den Landkreis Ennepe-Ruhr durch ein neues, klar verortbares „HAT“ zu ersetzen. Vergeblich. Die Nachbarstadt Witten dagegen hatte vor 1975 das eigene Kennzeichen und durfte es reaktivieren. Ende 2012 erlebte die Kfz-Zulassungsstelle „einen Ansturm“, viele Wittener hatten lange auf diese Chance gehofft. Heute sind gut 20 000 Autos mit „WIT“ unterwegs.

WAN holt stark auf

Wanne-Eickel, kreisfreie Stadt seit 1926, drohte 1975 – wie Herne – die Eingemeindung nach Bochum. Nach hitzigen Debatten über alle Chancen und Risiken entschlossen sich Bürger und Politiker beider Kommunen zur „Vernunft-Ehe“. Der Zusammenschluss von Herne 1 und 2 ersparte beiden das Schicksal von Wattenscheid. 40 Jahre danach ist offensichtlich, dass „WAN“ unvergessen ist. In nur 13 Monaten wurden 7400 Kennzeichen erteilt, heute künden 11 146 Autos von der Heimat der Cranger Kirmes. Seit August 2015 sank die Zahl der „HER“-Autos um 677, zeitgleich stieg die Zahl der „WAN“-Wagen um 1269 an.

MO ist der Renner, KK kommt

Ganz weit vorn liegt Moers am linken Niederrhein. Die Kreisstadt Wesel liegt für deren rund 100 000 Bürger nicht nur 40 Kilometer weit weg, sondern gefühlt in einer anderen Galaxie. Weshalb sich seit 2012 die „MO“-Autos zügig ausbreiten: Von 74 517 Autos, die im Januar in Moers zugelassen waren, tragen 46 001 (61,7 Prozent) das MO auf der Stoßstange. In Dinslaken, jenseits des Rheins gleichfalls Wesel zugeordnet, sind 17 332 „DIN“- Autos (35,9 Prozent) unterwegs.

Seit 2015 dürfen auch die 35 000 Bürger der alten Stadt Kempen bei Krefeld, seit 1975 im Kreis Viersen, wieder das alte „KK“ wählen. 5900 der 28 734 Autos tragen es bereits.

Alte Gefühle, neu ausgepackt

Geht das so weiter? Drehen die Protestbürger die Gebietsreform – zumindest optisch – zurück? „Das glaube ich nicht“, sagt Jörg Bogumil, Sozialwissenschaftler an der Ruhr-Uni Bochum. „Die Gebietsreformen von 1975 waren bundesweit Vorreiter, stellenweise aber hoch umstritten. Viele Menschen haben bis heute das Gefühl, dass die neue Struktur ihrer Stadt nicht gut getan hat.“ Jetzt nutzten sie die Chance, ihren Protest gegen die ­ungeliebte Einverleibung am Auto plakativ mitzuteilen. Bogumil überrascht das nicht. Eine Weile werde die neu erwachte Heimat­liebe anhalten, sagt er, „dann verflüchtigt sich das mehr und mehr.“ Eine Generation weiter werde ­diese Bewegung wohl weg sein.