Rio de Janeiro.
Wenn Frau Doktor an diesem Donnerstagabend (Freitag, 2.10 Uhr deutscher Zeit) ihren letzten großen Wurf mit dem Speer landen will, sitzt Herr Professor auf der Tribüne des Olympiastadions und drückt die Daumen. Linda Stahl ist der Prototyp für die Antwort auf die Frage, wie es im deutschen Sport möglich ist, sportliche und berufliche Karriere unter einen Hut zu bringen: mit Intelligenz und ganz viel Fleiß.
Ohne Professor Jürgen Zumbé könnte die 30-Jährige dies allerdings nicht. Linda Stahl arbeitet als Ärztin in der Urologie des Universitätsklinikums in Leverkusen und hat von Mai bis September unbezahlten Urlaub genommen.
Noch einmal bittet Frau Doktor zur Speerstunde, bevor sie dann ihr Sportgerät für immer in den Keller stellt. Stethoskop statt Speer, Vorsorge-Untersuchungen und Nierenspiegelungen statt schwere Hanteln zu stemmen und Technik zu trainieren.
Nervenflattern kennt sie nicht
Linda Stahl ist im olympischen Speerwurf-Finale alles zuzutrauen. Die 30-Jährige besitzt die Fähigkeit, sich auf den Punkt vorbereiten und im entscheidenden Moment ihre Höchstleistung abrufen zu können. So wie sie ihre medizinischen Prüfungen mit Bravour an der Uni gemeistert hat, geht sie auch im Sport an die Sache. Nervenzittern? Fehlanzeige. Noch nie ist sie in einer Qualifikation gescheitert. Und so blieb es auch in Rio. Die Leverkusenerin übertraf in der zweiten Gruppe gleich zum Auftakt mit 63,95 Metern die geforderten 63,00. Dabei hatte der Morgen nicht gut für sie angefangen. Zwar hatte sie nicht wie Robert Harting das Zimmerlicht mit dem Fuß auszumachen versucht, doch das Problem war ähnlich. „Ich bin einfach nur aufgestanden, und da hat es im Rücken gezwickt”, erzählte sie. Ihre Arzt-Kollegen und Physiotherapeuten im deutschen Team haben sie aber rechtzeitig wieder ins Laufen bekommen.
Eine Medaillensammlerin
Linda Stahl weiß nicht nur, wie sie selbst und ihre Patienten behandelt werden müssen, sie weiß auch, wie man Medaillen gewinnt. 2010 wurde sie Europameisterin, 2012 holte sie eine olympische Bronzemedaille, 2014 wurde sie EM-Dritte, und kurz vor Rio löste sie mit Silber bei der EM das Ticket nach Brasilien. In Amsterdam unterstützten sie 13 Kollegen aus der urologischen Ambulanz. „Es war ja ein Wochenende. Das traf sich gut, da sind nur zwei Assistenten und ein Oberarzt im Dienst”, erzählt Linda Stahl. „Mein Chef hatte das Ticket nach Rio schon lange vorher gebucht. Er hat mir gesagt: So, Frau Stahl, jetzt sind Sie am Zug.”
Frau Stahl löste auch diese Aufgabe mit Sternchen. Die gebürtige Steinfurterin ist die Doppelbelastung von Studium und Sport gewohnt. Nur einmal machte sie länger Pause. Vor Olympia 2012. Aber schnell merkte sie, dass ihr etwas fehlte. Den ganzen Tag nur aufs Training konzentrieren? Nein, danke! „Da wurde es mir etwas langweilig”, sagt sie. „Da habe ich meine Doktorarbeit angefangen.” Frau Doktor aus Langeweile.
Nun will sie im Finale noch mal die ganze Spannung des Sports in sich aufsaugen. Und dann? „Ich freue mich auf meinen Beruf”, antwortet sie. „Vorher fahre ich mal in den Urlaub. Ich weiß doch gar nicht, wie das ist, Urlaub ohne Sport im Hinterkopf.”