Freitag beginnt in New York die Schach-WM. Wie ein Spieler Weltmeister wird? Der Essener Großmeister Sebastian Siebrecht erklärt, worauf es ankommt.
Essen.
Die erste Überraschung holt Sebastian Siebrecht aus einem Stoffbeutel. Ein Schachbrett aus Frankreich, selbst gemacht von dem Großvater seiner Frau. Die Felder sind braun und beige. Bei Profis gibt es nämlich nicht nur schwarz und weiß. Sebastian Siebrecht ist Essens einziger Großmeister im Schach. Vor der Weltmeisterschaft, die ab Freitag in New York zwischen dem Titelverteidiger Magnus Carlsen aus Norwegen und dem russischen Herausforderer Sergey Karjakin beginnt, verrät er, wie man der beste Schachspieler der Welt wird.
Herr Siebrecht, sind Schachspieler klügere Menschen?
Sebastian Siebrecht: (lacht) Ach, ich kenne so viele Schachspieler…
Trotzdem gilt Schach als Elitesport. Stimmt das?
Sebastian Siebrecht: Nein, Schach ist für alle da. Die Leute sollten nicht so eine Scheu davor haben.
Wie wird man der beste Schachspieler der Welt?
Sebastian Siebrecht: Man braucht schon ein gewisses Talent. Aber auch Fleiß. Man muss früh anfangen und vor allem Begeisterung und Motivation mitbringen. Wenn man die Liebe zum Spiel nicht hat, dann geht es nicht. Man lernt vorausschauendes Denken, Lösungskompetenz, aber man braucht auch einen kleinen Killerinstinkt. Sonst kann man ein netter Kerl sein, aber am Brett muss man den Sieg wollen.
Welcher WM-Kandidat bringt die bessere Mischung mit? Magnus Carlsen oder Sergey Karjakin?
Sebastian Siebrecht: Carlsen ist vom Schachniveau her deutlich überlegen. Er hat ein fotografisches Gedächtnis, ist der kreativere Spieler, eine Ausnahmeerscheinung. Er hat zweimal den WM-Titel gewonnen. Karjakin kommt über den Fleiß. Für ihn ist es das Spiel seines Lebens. Es war eine Überraschung, dass er das Kandidatenturnier gewonnen hat.
Was ist das für ein Turnier?
Sebastian Siebrecht: Dort wird der Gegner des Titelverteidigers ermittelt. Das war im März in Moskau. Es starten die acht besten Spieler. Karjakin hat sich über seine gute Platzierung im Weltcup qualifiziert. Obwohl er nicht als Favorit galt, hat er sich durchgesetzt, weil er die Fehler seiner Gegner zu 100 Prozent ausgenutzt hat. Und das ist seine einzige Chance gegen Carlsen.
Wie kann er den Star-Norweger, der auch mal modelt, schlagen?
Sebastian Siebrecht: Karjakin muss ihn schon in der Eröffnung überraschen. Sonst kriegt er ihn nicht.
Wie läuft das WM-Turnier, das bis zum 30. November angesetzt ist?
Sebastian Siebrecht: Es gibt maximal zwölf Partien. Der Kampf ist vorzeitig entschieden, wenn einer sechseinhalb Punkte hat. Also kann die WM nach sieben Partien – sechs Siege, ein Remis – entschieden sein. Aber ich gehe davon aus, dass das Match eng wird.
Sie haben gegen Carlsen selbst schon gespielt. Karjakin kennen Sie von persönlichen Begegnungen. Wie verhalten sich die beiden in Stresssituationen?
Sebastian Siebrecht: Carlsen ist eher der emotionale Typ. Er zuckt schon mal bei einem überraschenden gegnerischen Zug – wenn ihn denn überhaupt mal etwas überrascht. Ähnlich wie bei dem früheren Weltmeister Garri Kasparow, der immer Grimassen gemacht hat. Karjakin hat da eher ein Pokerface.
Ihr Favorit?
Sebastian Siebrecht: Ich wünsche mir, dass Carlsen gewinnt, weil er ein guter Typ für das Schach ist. Er kann die Leute faszinieren, ist ein richtig toller Sportler.
Wann gibt es einen deutschen Weltmeister?
Sebastian Siebrecht: Wenn es einer schafft, dann Vincent Keymer. Er ist elf Jahre alt und hat schon Großmeister besiegt.
Mehr zu Sebastian Siebrecht finden Sie auch auf seiner Homepage: http://www.sebastiansiebrecht.de/
Magnus Carlsen: Ein tolles Vorbild
Zweimal wurde der erst 25-jährige Norweger Magnus Carlsen Weltmeister im klassischen Schach. Er ist die unangefochtene Nummer eins der Welt. Und er kann sich und seinen Sport verkaufen. „Als er Weltmeister wurde, waren in Norwegen plötzlich Schachbretter ausverkauft“, erzählt Sebastian Siebrecht.
Auftritt mit Facebook-Chef
Vor dem Kampf bei der Weltmeisterschaft in New York zeigte Carlsen sich mit Facebook-Chef Mark Zuckerberg, schon früher trat er als Model auf. „Er ist für Kinder ein tolles Vorbild“, sagt Siebrecht, „er ist durchtrainiert. Er will immer gewinnen. Egal, ob beim Schach oder beim Fußball nach dem Turnier.“
Kennengelernt hat Siebrecht ihn 2003 bei einem Turnier in Norwegen. „Da war er noch klein, kam mit seiner Familie. Damals hatte ich ihn noch ganz gut im Griff, jetzt hätte ich keine Chance mehr.“ Carlsen zeichnet seine Leidenschaft aus, seine spielerische, unbefangene Art. Im Spiel kann das zur Gefahr werden, „wenn er überdreht und Quatsch spielt“.
Sergey Karjakin: Ein richtiger Arbeiter
Sergey Karjakin hat für seine Karriere alles getan. Der gebürtige Ukrainer wurde 2009 russischer Staatsbürger, bereits mit zwölf Jahren wurde er Schachgroßmeister – der jüngste überhaupt. Der heute 26-Jährige hat nicht das Charisma wie sein WM-Kontrahent und Titelverteidiger Magnus Carlsen, aber er ist nicht zu unterschätzen. „Er ist ein richtiger Arbeiter, ein technischer Spieler, sehr strategisch“, sagt Sebastian Siebrecht. „Er baut sein Spiel sehr gut auf, hat ein gutes Figurenverständnis. Und er nutzt seine Chancen.“
Nervenstark und bodenständig
Wie beim Kandidatenturnier im März. Dort galt der Weltranglistenzweite, der US-Amerikaner Fabiano Caruana, als Favorit. Er sollte bei einem Heimspiel in New York Carlsen schlagen. Doch Karjakin spielte ihn geduldig aus. „Er ist sehr nervenstark, aber auch bodenständig, riskiert nicht viel, verteidigt gut. Wenn Carlsen einer schlägt, dann vielleicht Karjakin“, sagt Siebrecht. Zumal Karjakin größtmögliche Unterstützung erhält: Sein Verband will den Titel wieder zurück nach Russland holen.