Amazonas des Nordens – Mit dem Kanu auf der Wakenitz
Wer durch Wildnis paddeln will, muss nicht weit fliegen. In Lübeck beginnt eine bildschöne Kanutour vorbei an Seerosen und überhängenden Bäumen.
Lübeck.
Was für ein billiger Werbegag – ein Flüsslein bei Lübeck „Amazonas des Nordens“ zu nennen. So mag mancher Gast denken, der an die Wakenitz reist und die Tourismusbroschüren gelesen hat.
Bis er auf der Straße scharf bremst und Nandus über die Wiesen staksen sieht. Laufvögel aus, ja genau: Südamerika. Sechs der straußenähnlichen Vögel sind im Jahr 2000 aus einem Gehege ausgebüxt, seitdem haben sie sich prächtig vermehrt. Direkt am Ufer sieht man die Tiere allerdings nie.
Eine ruhige Fahrt
Moritz Löffelmann, 31, ist Förster. Er lebt mit Frau, Kind und Hunden auf einem Bauernhof südlich des Ratzeburger Sees. Die Kanutour auf der Wakenitz macht er regelmäßig mit der Familie.
Stromschnellen gibt es nicht, und der Fluss fließt noch träger als der echte Amazonas. Derart träge sogar, dass es schlauer ist, in Lübeck zu starten und gegen die Strömung zu paddeln. „So haben wir den Wind im Rücken“, sagt Löffelmann.
An der Einstiegsstelle sieht es zunächst nicht nach Dschungel aus, sondern nach reichem Vorort. Villen stehen in manierlichem Abstand zum Wasser, der Fluss ist hier breit wie ein See. Hinter der ersten Brücke weichen die Anwesen Schrebergärten.
Mit dem Kanu durchs Naturschutzgebiet
Die ersten Seerosen blühen weiß zwischen ihren Blatttellern, Haubentaucher und Blässhühner tauchen nach Beute, zwei Graureiher flattern dicht über dem Wasser. Langsam wird es wilder. Irgendwo hier beginnt auch das Naturschutzgebiet, das 1999 eingerichtet wurde.
„Die Wakenitz wurde nie begradigt“, erklärt Löffelmann, als der Fluss die ersten Haken schlägt. Denn an ihren Ufern gab es wenig Industrie. Als Transportweg war sie vor allem im Mittelalter wichtig.
Ein Ausflugsschiff macht sich deutlich bemerkbar. Als Löffelmann gerade unter eine stählerne Brücke paddelt, hupt es von hinten. Der Förster paddelt rechts ran. Es wird nicht das letzte Mal sein. Denn die Wakenitz ist offenbar ein bevorzugter Trainingsplatz der Lübecker Ruderer. Ein ums andere Mal überholt ein Vierer.
Barsche, Seerosen und Libellen
Im klaren Wasser dümpeln Barsche zwischen verwundenen Stängeln der Seerosen. Wiesen von Seegras und salatartigen Pflanzen wiegen vor sich hin. Schmetterlinge und leuchtend blaue Libellen schwirren umher. Bäume neigen sich fotogen über die Schwertlilien. Und am Ufer wuchert ein Dickicht aus Brombeeren, Büschen und Farnen.
Ohne die Staumauer in Lübeck wäre dieses Ökosystem am Wasser deutlich schmaler, sagt Löffelmann. Die vermeintliche Wildnis ist in Wahrheit stark vom Menschen geprägt. Das sieht man schon an den Ausflugslokalen, die am Ufer mit frischem Bier vom Fass locken.
Grenzfluss im Kalten Krieg
Einst bauten die Fischer hier Hütten für ihre Netze. Als immer mehr Städter ins Grüne strömten, bewirteten sie die Gäste. Die Hütten wuchsen zu Gaststätten. Bis der Zweite Weltkrieg ausbrach und die Wakenitz bald danach zum Grenzfluss zwischen den beiden Deutschlands wurde. Vor Ausbuchtungen am Ostufer warnten fortan Schilder, und im Gebüsch dahinter patrouillierten Grenzsoldaten.
Der Unterschied zwischen beiden Ufern ist bis heute frappierend. Auf der Westseite passiert man offene Felder. Auf der Ostseite wuchert undurchdringliches Grün, die norddeutsche Spielart eines Dschungels.
„Perfekt für den Eisvogel“
Die Stelzwurzeln der Schwarzerlen fingern mangrovenhaft ins Wasser, umgekippte Bäume liegen kreuz und quer. „Solche aufgeklappten Wurzelteller sind perfekt für den Eisvogel“, erklärt Löffelmann. „Hier baut er sein Nest.“ Oft kann man den farbenprächtig gefiederten Jäger herumschwirren sehen. An diesem Tag macht er sich rar.
Der sanfte Bootstourismus scheint sich gut mit dem Naturschutz zu vertragen. Als das Magazin „Geo“ 1999 zum ersten Tag der Artenvielfalt an die Wakenitz rief, fanden Forscher 2066 Arten von Pflanzen und Tieren. Die Autobahnbrücke durch das Schutzgebiet konnten sie nicht verhindern. Ein leises Brummen kündigt sie an, dann spreizt sie sich in all ihrer Hässlichkeit in die Idylle.
Von hier ist es nicht mehr weit bis zum Fährhaus Rothenhusen mit seinem hübschen Fachwerk und der Terrasse am Ratzeburger See. Leider. Aber man kann ja zurückkehren. In puncto Anreise schlägt der kleine, nördliche Amazonas den großen, südlichen klar. (dpa)