Wie zwei italienische Bergdörfer den Tourismus ankurbeln und damit ihre alte Feindschaft begraben
Bevor sie zu sehen sind, hat man sie längst gehört. Erst ist es ein leises Pfeifen, dann kommt ein Schrei und schließlich folgen Jubel und Jauchzen. So, wie es sich für richtige Engel gehört. Ein Blick nach oben, und es wird klar, warum der reguläre Flugbetrieb hier nicht ohne Freudengeschrei absolviert werden kann. An einem hoch oben im Himmel gespannten Seil fliegen Menschen engelsgleich durch die Lüfte. Beim Start, wenn es Vollgas in die Tiefe geht, kann einfach keiner den Mund halten vor Aufregung.
Die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist die Gerade. Die schnellste muss sie deshalb noch lange nicht sein. Eine Kurve kann in Verbindung mit Gefälle für wesentlich schnelleres Fortkommen sorgen. Was sich nach trockener Physik anhört, bringt in der Praxis eine Menge Spaß. Deshalb wurden in den Lukaner Dolomiten, einem kleinen Bergmassiv mitten in der süditalienischen Region Basilikata, zwei Stahlseile gespannt, an denen man hoch über dem Caperrino Tal zwischen den beiden Dörfern Pietrapertosa und Castellmezzano hin und her fliegen kann.
Ohne den „Volo dell’Angelo“, den Engelsflug, wie das Extrem-Sportgerät heißt, kommt man hier nicht weit. Von Pietrapertosa den steilen Fußweg hinab ins Tal, über die alte römische Brücke und auf der anderen Seite wieder hoch nach Castelmezzano, sind es anderthalb Stunden. Mit dem Auto über die Berge 30 Minuten. Am schnellsten geht es im Flug. Für die 1,5 Kilometer lange Strecke brauchen die Besten gerade mal 60 Sekunden.
In Gurtzeug geschnallt, das an einem Rollschlitten befestigt wird, werden die Mutigen in das Seil eingehakt und nach Abfrage von Name und Gewicht auf den Weg geschickt. Der Höhenunterschied von 130 Metern sorgt dafür, dass die Engel nicht gerade gemächlich durch die Lüfte schweben, sondern mit bis zu 120 km/h ins Tal hinab brausen. Wem das zu schnell ist, der bekommt einen kleinen Bremsfallschirm auf den Rücken gespannt. Was dem Space-Shuttle hilft, muss beim „Volo dell’Angelo” nicht verkehrt sein. Zum Rückflug geht’s 20 Fußminuten den Berg hinauf zur zweiten Absprungstation.
Wenn Giacomo, der junge Kellner in der Bar am Ortseingang, an seinen ersten Flug zurückdenkt, bekommt er noch größere Augen als er sie hinter seiner dicken Brille schon hat. „Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, wenn der Schlitten lossaust und sich nach den letzten Felsen plötzlich die Tiefe unter dir ausbreitet.“ Das Caperrino Tal liegt 400 Meter weiter unten und öffnet sich wie ein Abgrund für die Überflieger. Den Blick in die Tiefe mag so mancher Engel im letzten Moment bereuen, doch dann ist es längst zu spät für eine Umkehr, aber auch fast schon wieder vorbei. Auf der anderen Talseite beendet eine Federbremse den Flug abrupt aber sanft und bringt die frisch gebackenen Engel wieder auf die Erde zurück. Es ist noch keiner oben geblieben.
„Wer Angst hat, für den ist eine Minute unendlich lang. Für den, der es mag, ist es immer viel zu kurz.“ Teresa Colucci weiß Bescheid. Sie ist Stadtführerin in Pietrapertosa und beobachtet das Treiben am Himmel von Anfang an. Romano, ihr Vater, hat sich schon zweimal an die Seile spannen lassen und ist mit 78 Jahren der bisher älteste Angelo, der über das Tal geschwebt ist. Früher, als Kind, ist er wie alle anderen auch zu Fuß über die alte Brücke unterwegs gewesen, wenn er nach Castelmezzano musste, aber schneller als im Flug, gehe es nun mal einfach nicht.
Von den Gästen wird kein ärztliches Attest auf Flugtauglichkeit verlangt. „Einmal kam ein bewusstloser Engel auf der anderen Seite an“, erzählt Teresa. Er war während des Fluges vermutlich von den überirdischen Segnungen des Himmels überwältigt worden.
in Mindestgewicht von 35 Kilo muss jeder mitbringen. Während der ersten Flüge konnte ein junges Mädchen wegen fehlender Masse nicht die nötige Geschwindigkeit entwickeln und war deshalb nicht auf der anderen Seite angekommen. Am tiefsten Punkt des durchhängenden Seiles, genau über der Schlucht, war sie zum Halten gekommen. Doch darauf sind die Engelsflug-Macher vorbereitet, sagt Teresa: „Wir haben einen zweiten Schlitten mit einem Helfer zu ihr hinuntergelassen und sie an einem zusätzlichen Seil wieder hochgezogen.“ Seither gilt das Mindestfluggewicht.
Die spektakuläre Flugverbindung ist kein Einfall der beiden Gemeinden, um die Fahrzeiten im öffentlichen Nahverkehr zu verringern, sondern eine ungewöhnliche Wirtschaftsförderungsmaßnahme mit Verbrüderungsfaktor im Nebeneffekt. „Ohne das Seil würden sich unsere beiden Dörfer weiter entvölkern“, erklärt Nicola Valuzzi, Bürgermeister von Castelmezzano. Arbeitsplätze sind rar. Die fehlende wirtschaftliche Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg, die große Teile des Südens von Italien bis heute lähmt, hat zur Emigration und zur Halbierung der Einwohnerschaft Pietrapertosas und Castelmezzanos in weniger als 40 Jahren geführt.
Doch anstatt sich weiterhin über den römisch-zentralistischen Tropf zu beklagen, an dem alle südlichen Regionen hängen, sind die Regierenden der beiden Gemeinden vor vier Jahren aus ihrem Bergnest herabgestiegen, nach Frankreich gefahren und haben sich dort das Flugseilsystem angesehen, für das die Franzosen ein Patent entwickelt haben. Nach eingehender Prüfung entschlossen sie sich, gemeinsame Sache zu machen und schon 2007 stürzten sich hoch über der kleinen Brücke bereits 6000 Engels-Anwärter in die Tiefen.
Nicht immer gab es solch einen harmonischen Austausch zwischen den beiden Ortschaften. Die Animositäten gehen zurück bis ins 17. Jahrhundert, als Castelmezzano noch unter der Hoheit von Pietrapertosa stand. Erst als Baron Leonardis Castelmezzano seiner Tochter als Mitgift in die Ehe gab, wurde das Dörfchen unabhängig. Trotzdem flogen hier bis vor 40 Jahren immer wieder die Steine, wenn einer den Boden des anderen betrat. Damit sei nun endgültig Schluss, sagt Pasquale Stasi, Bürgermeister von Pietrapertosa. „Die beiden Seile sind nicht nur eine physische Verbindung zwischen unseren beiden Dörfern. Sie sind auch Ausdruck dafür, dass wir gemeinsam an einem Strang ziehen müssen, wenn wir hier in Zukunft wirtschaftlich weiterkommen wollen.“
Aus der geschichtlichen und geografischen Kluft ist ein neues Business entstanden, aber auch die wirtschaftliche Not, die längst zur Abwanderung geführt hat, könnte den beiden Gemeinden noch zum Vorteil gereichen. Da aus Denkmalschutzgründen in beiden Ortschaften keine neuen Beherbergungsbetriebe gebaut werden dürfen, hat man sich der leerstehenden Häuser der Emigranten erinnert und das erste „Albergo Diffuso“ der Basilikata eröffnet: ein sogenanntes verstreutes Hotel, mit dem Namen „Le Costellazioni”, das geschmackvoll renovierte Wohnungen an verschiedenen Plätzen im alten Dorfkern von Pietrapertosa vermietet. Die Rezeption ist in einem separaten Haus am Ortseingang untergebracht, wo eingecheckt und gefrühstückt wird. Im Büro des Fremdenverkehrsamtes, gleich über der Straße, gibt es die Tickets für den Engelsflug.
Trotz schneller Flugverbindungen hoch über dem Tal hat das alte Brücklein noch lange nicht ausgedient. Wer geglaubt hat, dass die beiden Gemeinden nicht auch hierfür noch eine neue Verwendung finden würden, der wird eines Besseren belehrt. Dort wird fleißig an einem neuen Literaturpark mit Texttafeln gebaut, der in diesem Jahr eröffnet werden soll. Bleibt zu hoffen, dass nicht wieder Steine fliegen, wenn die ersten Besucher über die Brücke kommen.