Das Pitztal sieht sich als der „Neue Höhepunkt Tirols“
Bislang galt das Pitztal im österreichischen Tirol eher als zurückhaltend, doch seit dieser Saison ist es der „Neue Höhepunkt Tirols“. Denn: Die höchste Seilbahn Österreichs, die Wildspitzbahn, bringt Urlauber zum höchsten Café des Landes, wo man sich ins höchste W-LAN einloggen kann.
Tirol ist ein Land, in dem man sich mit einem „sakrischen Vergelt’s Gott“ grüßt und sich den Werbespruch „Moments for Eternity“ ausdenkt. Ein Land, in dem man sich mit einem Schnapserl zuprostet und 20 Millionen Euro für eine Bergbahn ausgibt. Ein Land also, das zwischen Charme und Größenwahn pendelt wie die Gondeln im Pitztal, wenn sie zum neuen „Café 3440“ hinauffahren, seit dieser Saison der „Neue Höhepunkt Tirols“.
Das Pitztal also. Ein Tal, das bislang für Tiroler Verhältnisse als zurückhaltend galt, setzt sich nun an die Spitze Österreichs. Der Gletscher wurde in den 80er Jahren erschlossen, und man hatte sich daran gewöhnt, dass die grantigen Talbewohner unter dem Begriff Dienstleistung verstanden, ihren Gästen den Liftbügel in die Knie zu rammen.
Die höchste Seilbahn Österreichs
Als wir im Pitztal ankamen und im Tal der Strom ausgefallen war, war uns, als hätte sich seit damals nichts verändert. Wir saßen bei Kerzenlicht und ohne Musik in der Après-Ski-Bar „Hexenkessel“ und hatten das Gefühl, dem Wesen dieses Tals nah zu sein. Als nach drei Stunden die Lichter angingen und die Musik zu stampfen anfing, war das eine Bestätigung für dieses Gefühl. Der alte Werbespruch hatte schon etwas: „Das Pitztal – urgemütlich!“
Aber diese Zeiten sind vorbei. Seit der Eröffnung der neuen Wildspitzbahn und des architektonisch ausgefallenen Cafés in der Bergstation auf dem Hinteren Brunnenkogel auf 3440 Metern Seehöhe wird nunmehr in Superlativen gesprochen: Die höchste Seilbahn Österreichs fährt zum höchsten Café Österreichs, wo man sich ins höchste W-LAN Österreichs einloggen kann. Und das alles ist mit der größten Investition (20 Millionen Euro) verbunden und der größten Kampagne, mit der das Pitztal jemals geworben hat.
Direkt vor dem Café die Skier anschnallen
Das „Café 3440“ klammert sich wie eine Schneewehe an den Gipfel, und seine Terrasse ragt über den Abgrund hinaus.
„Das ‚Café 3440’ befindet sich nur 40 Meter unter dem Jungfraujoch“, sagt Stefan Richter von der Pitztaler Gletscherbahn. Die Schweiz vermarktet den Gipfel seit Jahren als „Top of Europe“ und karrt Unmengen von Touristen aus Asien hinauf. Aber das Pitztal hat einen Vorteil: Während man vom Jungfraujoch wieder mit der Bahn hinunter muss, kann man hier direkt vor dem Café die Skier anschnallen.
Davor sollte man aber noch die 50 Meter bis zum Aussichtspunkt oberhalb des Cafés gehen. Die dünne Luft bringt einen zwar außer Atem, doch die Schinderei lohnt sich. Am Horizont erheben sich der Großglockner, die Marmolada, der Ortler im Vinschgau und der Piz Bernina in der Schweiz, dazu die Vorarlberger Gipfel und die Zugspitze.
„Nähe Sölden“ –„Danke, Google Maps!“
Wer dann den Blick nicht so weit in die Ferne richtet, der sieht auf zwei andere Tiroler Gletscher: Die Bergbahnen des Stubaitaler Gletschers blitzen drei Bergketten entfernt im Sonnenlicht, und ganz nah, fast schon greifbar, sieht man das Gletscherskigebiet von Sölden im Ötztal – dem bisherigen Höhepunkt Tirols.
Das Ötztal also: Als wir am nächsten Tag auf dem „BIG 3“ genannten Aussichtssteg stehen und Richtung Pitztal schauen, sagt Christoph Nösig, der für das Söldner Marketing zuständig ist, dass das mit den „Neuen Höhepunkten“ da drüben ja eigentlich nicht in Ordnung sei. Er lächelt auf diese tirolerische Art, die jede Aussage in ihr Gegenteil verkehren kann. Dann holt er sein Handy aus der Tasche und zeigt auf ein bei Facebook gepostetes Bild des „Café 3440“. Darunter steht: „Nähe Sölden“. Nösig sagt: „Danke, Google Maps!“
Verbindung der beiden Skigebiete
Es gibt kaum einen besseren Standort als hier, auf diesem Steg am Tiefenbachkogel, um zu sehen, wie nah das Pitztal und das Ötztal beisammen liegen. Und es gibt kaum einen besseren Ort, um zu verstehen, warum seit Jahren über eine Verbindung der beiden Skigebiete gesprochen wird.
Logisch wäre es. Betrachtet man Westtirol auf einer Landkarte, dann fällt auf, dass Ötz-, Pitz- und Kaunertal, ausgehend von den Gletschern, nur zehn Kilometer voneinander entfernt und fast parallel Richtung Inntal verlaufen.
Bei diesem Verbund ginge es – natürlich – wieder um Superlative. „Zusammen mit dem Pitztal wären wir das größte Gletscherskigebiet der Welt“, sagt Christian Schnöller, der andere Söldner Marketingmann. Schnöller reist regelmäßig nach Russland, Brasilien und China, um dort Kunden zu werben. Und Zahlen machen Eindruck.
Es sieht nach 80er Jahren aus
Von solchen Dimensionen können sie im Kaunertal nur träumen. Im letzten der Tiroler Seitentäler leben 630 Bewohner, im Gletscherskigebiet stehen acht Lifte. Der Tourismusdirektor, vom Typ her genau das Gegenteil der Söldner Marketingleute, sagt: „Wenn man einen Kaunertaler siezt, riskiert man eine Schellen.“ Sein Name ist Florian und er ist schon als Kind durchs Tal getollt.
Das Kaunertal also: Es verhält sich zum Pitztal in etwa so wie das Pitztal zum Ötztal. Oder mit anderen Worten: Hier ist gar nichts los, und sogar viele Tiroler gestehen, dass sie noch nie dort waren. Alles sieht nach 80er Jahren aus. Auf dem Bergrücken hoch über der Straße schiebt sich der gewaltige Gepatsch-Gletscher entlang. Auch wenn „wildromantisch“ ein sehr abgenutztes Wort ist – zum Kaunertal passt es gut.
„The Top of Europe“
Der höchste Punkt im Skigebiet liegt auf 3260 Metern, was für einen neuen „Tiroler Höhepunkt“ natürlich schon lange nicht mehr reicht. Aber auf dem Pistenplan ist eine gestrichelte Linie eingezeichnet: „Projekt Weisseespitze“ steht darunter, und oben, auf dem Berggipfel, die Höhenmeterangabe: 3518 Meter.
Der Tourismusdirektor sagt: „Ja, dann wären wir höher als das Pitztal.“ Sie wären sogar höher als das Jungfraujoch, „The Top of Europe“. Dann wäre dieses entlegene und auf die sympathischste Weise rückständige Kaunertal der „Neue neue Höhepunkt Tirols“. Dem Pitztal würde es gehen, wie es gerade dem Ötztal ergangen ist, und das Ötztal, nun ja, das wäre fast schon Flachland.