Anfang Juni beginnt in der Ukraine die Fußball-EM – in der Hauptstadt Kiew erwartet den Besucher eine andere Welt.
Kiew.
Dies ist eine Geschichte der Missverständnisse. Sie erzählt von dem Versuch, sich in Kiew das Fußballspiel zwischen Dynamo Kiew und Worskla Poltawa anzuschauen. Irgendwann im Laufe der Geschichte taucht auch noch eine Miss Verständnis auf, aber zu ihr später mehr.
In 50 Tagen beginnt die Fußball-EM in Polen und der Ukraine. Doch die Schienen der geplanten Bahnstrecke vom Flughafen Kiew in die Stadt hinein sind noch nicht verlegt. Der Taxistand ist leer. Aber es gibt viele Männer, die aussehen wie Gustav Knuth, der einen Taxifahrer spielt. Die Männer tragen Kunstlederjacken. Einer murmelt: „Taxi?“ – „Taxi!“
Der ukrainische Gustav Knuth geht durch den Hinterausgang, über eine Baustelle, zwischen Sandbergen hindurch: Dort hat er sein Taxi geparkt. Ein Skoda ohne Taxameter. Man sollte jetzt vielleicht über den Preis reden. Gustav Knuth sieht das genauso: „Threehundred.“ Das zweite Wort ist nicht zu verstehen. Es muss das Wort Hriwna sein.
Waleri Lobanowski lässt grüßen
Hriwna heißt die Währung des Landes, und 300 Hriwna sind 30 Euro. Das durchschnittliche Monatseinkommen in der Ukraine liegt nach Auskunft des Amtes für Statistik in der Ukraine bei 220 Euro. 30 Euro für eine Taxifahrt vom Flughafen ins Zentrum sind also viel zu viel. Aber Gustav Knuth sitzt am Lenkrad und diskutiert nicht.
Er steuert den Skoda an Hochhaus-Siedlungen vorbei. Keine Vogelzwitschergegend, in der man samstags gemeinsam den Bürgersteig fegt. Nach einer Dreiviertelstunde hört das hässliche Kiew auf und verwandelt sich langsam in das wunderschöne Kiew mit goldenen Kuppeln und der Fußgängerzone mit den kürzesten Röcken und den höchsten Absätzen Europas. Von dort sind es nur noch fünf Minuten zu Fuß zu Waleri Lobanowski, der auf einer Bank vor den Eingangstoren des Stadions sitzt. Lobanowski ist mittlerweile aus Bronze und ein Denkmal, denn der legendäre Dynamo-Trainer starb vor zehn Jahren nach einem Auswärtsspiel in Saporoshje. Manche behaupten, der armenische Cognac habe dabei eine Rolle gespielt, doch die Fußball-Fans interessierte das überhaupt nicht. 100 000 Menschen kamen, als Lobanowskis Leichnam im Stadion aufgebahrt wurde.
Miss Verständnis im Kassenhäuschen
Vor dem Denkmal stehen die Kassenhäuschen. Es ist Mittag, und das Erstliga-Spiel gegen Poltawa beginnt erst um 17.30 Uhr. Die Eintrittskarten kosten zwischen 20 und 250 Hriwna. Es ist die Stelle in dieser Geschichte, an der nun Miss Verständnis auftritt. Sie sitzt an der Kasse und sagt zum ratlosen Besucher: „You go to area 73. Correct People. It is better for you. Believe me!“ Also eine Karte für Block 73. Sie schiebt das Ticket für 250 Hriwna herüber. Natürlich.
Es bleibt genug Zeit für ein Bier in der Stammkneipe der Dynamo-Fans: Dem Pub 25. Der Pub 25 liegt neben dem „Monaco“. Im gediegenen „Monaco“ tafelt Box-Weltmeister Vitali Klitschko gerne mit Blick ins Tal des Dneprs, zum Pub 25 führen fünf Stufen hinunter in den Keller, dann ist die Sonne verschwunden. Im Schummerlicht hängen Poster von Lobanowski. Die Biergläser sind groß, die ersten Fans betrunken.
Ein Bier später wird es Zeit, zum Stadion zu gehen. Über die Straßen rauschen schwarze Porsche und BMW mit verdunkelten Scheiben, im Staub der Bürgersteige sitzen alte Frauen und verkaufen Knoblauchzehen und Radieschen. Dahinter werben Plakate für ein Konzert „Football and Rock“. Auftreten werden Status Quo, Sweet und Smokie. Die gibt es alle noch?
Die Millionen versickern
Am Stadion ist Lobanowski immer noch da, sonst niemand. In einer Viertelstunde ist Anpfiff, allerdings nicht im Dynamo-Stadion, sondern im für 600 Millionen Euro renovierten Olympiastadion. Die Allianz-Arena in München hat als Neubau „nur“ rund 320 Millionen gekostet. Die Ukraine gilt als eines der korruptesten Länder der Welt, und manchmal versickern die Millionen einfach. Das Olympiastadion liegt drei Kilometer vom Dynamo-Stadion mit den Kassenhäuschen entfernt. Wieder eines dieser Missverständnisse.
Es ist das Stadion, das man aus längst versunkenen Europapokal-Zeiten kennt. Damals sahen noch Sowjets in Armee-Mäntel im Schneegestöber zu, wie Dynamo Kiew gegen Bayern München spielte. Nachmittags um drei war die Sonne längst untergegangen, und im Fernsehen kommentierte Fritz Klein, der 90 Minuten in einer einzigen Tonlage durchhielt: „Beckenbauer, … Müller, … Tor.“
Heute hat niemand der 25 000 Zuschauer noch einen Armee-Mantel. Die VIP-Hostessen an den Marmorsäulen vor den Aufzügen tragen Röcke in der Größe von Taschentüchern, Dynamo siegt 3:0, und der Block der Dynamo-Ultras bebt gefährlich. Vor dem Zaun wartet ein Sicherheitsaufgebot, das ausreichen würde, um ein Land wie Luxemburg zu verteidigen.
Explodierende Hotelpreise – wenig Flugverkehr
Fußball in der Ukraine scheint nicht ungefährlich zu sein. Wer ein Auto mieten möchte, um auf eigene Faust die 2000 Kilometer zum nächsten Spielort Donezk zu fahren, sollte seinen Plan einfach vergessen. Mit den Straßen außerhalb von Kiew könnte die Ukraine Geld verdienen, wenn sie sie als Teststrecke für Geländepanzer vermieten würde.
Zudem explodieren die Hotelpreise. Ein Zimmer, das im Moment 80 Euro kostet, geht bei der EM für 400 Euro über den Tisch. Leitungswasser sollte man nicht trinken. Fans werden auf diese Art nicht glücklich, und Uefa-Präsident Michel Platini tobt. Als „Betrüger und Ganoven“, hat er die ukrainischen Hoteliers beschimpft. Nur: Platini hat sich nicht zuletzt mit Hilfe der Ukraine ins Präsidenten-Amt wählen lassen. Im Gegenzug hat er die EM avisiert.
Die Geister, die er rief, wird er nicht mehr los.
Aber es gibt auch Vorteile. Wenig Touristen bedeuten wenig Flugverkehr. Der Flieger hebt also zügig ab und landet pünktlich in Düsseldorf. Hinter der Autobahn-Ausfahrt hängen Werbe-Plakate: Graham Bonney geht auf Tour. Nicht in der Ukraine, sondern in Deutschland. Es gibt überall diese Missverständnisse.