Thilo Sturm starb vor einem Jahr. Mit 43. Seine Frau sagt: Das hat mich stärker gemacht.
Essen.
Heidrun Sturm sagt einen unerhörten Satz. „Ich möchte diese Erfahrung nicht mehr missen.“ Was den Satz so bedeutsam macht und so beinahe unglaublich: Die Erfahrung, um die es ihr geht, ist diese: Sie hat vor gut einem Jahr ihren Mann verloren, gemeinsam haben sie zwei Töchter, vier und fünf Jahre alt. Mitten aus dem Leben gerissen, heißt so etwas wohl, wenn jemand mit 43 gehen muss.
„Wir hatten gerade eine neue Wohnung gefunden, mit einem Garten für die Kinder. Sie war perfekt, wenn auch ein bisschen zu teuer. Wir würden beide künftig mehr arbeiten müssen. Beim Umzug bekam mein Mann Schmerzen in der Schulter“, so beginnt sie die Schilderung jener 16 Monate, die zwischen der Krebsdiagnose und dem Tod ihres Mannes liegen.
Was folgt, sind Therapien und Operationen, die den Krankheitsverlauf nur noch verlangsamen, aber nicht mehr zum Guten wenden können. Die Ärzte geben Thilo Sturm eine Perspektive bis Weihnachten – aber auch nur, weil Heidrun Sturm nachfragt. Sie will es wissen. Sieben Monate also. Es werden 16 daraus. Vielleicht auch, weil Thilo Sturm nichts wissen will, die Diagnose ignoriert und beschließt, nicht zu sterben.
Erklären, dass Papa nie wieder gesund wird
Während Heidrun Sturm am liebsten Fakten hätte: Was dürfen wir hoffen? Was können wir noch tun? Wie geht es finanziell weiter? Sie muss nicht nur den Kindern erklären, dass Papa nie wieder gesund wird, sie muss auch den Schwiegereltern erläutern, dass der Tod ihres Sohnes auf sie zukommt. „Das ist für mich im Nachhinein am schwersten zu akzeptieren – das jeder von uns seinen eigenen Weg hatte, und dass ich nicht weiß, wie er darüber dachte, gehen zu müssen.“
Und sie beschreibt auch, dass sich ihr Mann verändert. „Die Medikamente und die ganze Situation machten ihn aggressiv.“ Probleme, die sie mit kaum jemandem teilen kann, weil alle dazu raten, die letzten gemeinsamen Monate doch zu genießen. Die letzten Wochen und Monate sind weder ein ständig erfolgreiches Ringen um lauter schöne Momente sind, noch ein ständiger November, in dem unablässig Tränen fließen.
Das zeigt das Buch „Leben trifft Sterben“ von Helen Sibum, langjährige NRZ-Redakteurin. Sterben ist Leben, Lebensreise, nur eben die Schlussetappe, will das Buch vermitteln. Und wie auch sonst im Leben eine Mischung aus Freude und Leid – wenn man Glück hat, etwas konzentrierter, bewusster, achtsamer. Mit mehr Wertschätzung für das, was bleibt: Als die letzten Stunden für ihren Mann nahen, nehmen die beiden Abschied.
Ihre Stimme zittert kaum
Ihre Kräfte reichen nicht mehr und oft, so sagen es viele Sterbebegleiter, können Sterbende den letzten Schritt nicht gehen, wenn der Partner bei ihnen ist. Heidrun Sturm fuhr nach Hause, in die neue Wohnung. „Es war ein wunderschöner Herbsttag. Ich saß mit den Kindern im Garten und war unendlich dankbar, zu Hause zu sein.“
Heute kann sie im baumbestandenen Park des Krankenhauses stehen und auf das Gebäude deuten: „Da drüben, in diesem Zimmer ist er gestorben“, sagt sie und ihre Stimme zittert kaum. Thilo hat seine Reise vollendet. Und Heidrun Sturm hat, aller Trauer zum Trotz, das Glück diese 16 Monate schon als schmerzhafte, strapaziöse Etappe ihres eigenen Weges sehen zu können. „Ich bin dadurch stärker geworden“, sagt sie. Und diese Kraft will sie nicht wieder verlieren.