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Ehepaar nimmt Ex-Straftäter auf

Ehepaar nimmt Ex-Straftäter auf

Werl. 

Seine Sprachmelodie ist unverkennbar die eines Münsterländers, und er wirkt auch genauso. Robust, rotwangig und bodenständig. Doch all diesen Äußerlichkeiten zum Trotz traut sich Karl Brömmel etwas, was sonst kaum jemandem im Traum einfallen würde. Brömmel nimmt in seinem Haus im ostwestfälischen Werl Sexualstraftäter auf, eben jene, wegen denen Nachbarn gewöhnlich auf die Barrikaden gehen. Männer aus der Sicherungsverwahrung. Brömmel, der streng gläubige Katholik, nennt sein Tun schlicht Nächstenliebe.

Letzter Rettungsanker

Am 1. August ist es mal wieder so weit. Dann entlässt die Justizvollzugsanstalt Werl einen 54-jährigen Mann, einen pädophilen Sexualstraftäter, der mehrfach zwölf-, dreizehnjährige Jungen missbraucht hat. Kein brutaler, kein gewalttätiger Typ, vielmehr einer, der selbst als Kind missbraucht wurde und dadurch einen Hang zu Kindern entwickelt hat. Acht Jahre war er inhaftiert, weitere fünf in Sicherungsverwahrung, weil man ihn als gefährlich einstufte. Nun beschloss das Oberlandesgericht Hamm auf der Basis neuer Gutachten, ihn freizulassen. Das Problem: Bislang fand sich keine Einrichtung, die ihn aufnehmen und betreuen will.

Ein Fall wie so viele zuvor. Wieder einmal könnte es darauf hinauslaufen, dass Familie Brömmel der letzte Rettungsanker sein wird. Für das Justizministerium und die JVA Werl, die verzweifelt versuchen, den Mann unterzubringen. Für den Mann selbst, den niemand will. Der 64-jährige Karl Brömmel und seine Frau Elisabeth leben in Werl und im nahen Warstein in einer klosterähnlichen, religiösen Gemeinschaft aus rund 70 Freunden. Man trifft sich viermal am Tag zu Stundengebeten, lebt bescheiden und kümmert sich um Menschen am Rande unserer Gesellschaft. Obdachlose Jugendliche etwa und eben Strafgefangene.

Werl, an einem frühen Sommertag. Adrettes Fachwerk, blühende Landschaft rundherum. Hier, mitten im Ort, liegt das ehemalige bischöfliche Konvikt, in dem einst Jungen Internatserziehung genossen. Ein turmbewehrtes Jahrhundertwende-Gebäude, dem in den 70ern ein mehrstöckiger Flachbau angeflanscht wurde. Dass rechts und links Einfamilienhäuser stehen, macht diesen Ort als Notaufnahme für Sexualstraftäter noch erstaunlicher. Verglichen etwa mit Heinsberg, wo wegen des entlassenen Karl D. tagtäglich Nachbarn demonstrierten. Zwei Jahre ertrugen Karl D. und die Familie seines Bruders das. Danach zog Karl D. fort, ließ sich in die Psychiatrie einweisen. Die Familie des Bruders zerbrach.

„Wir sind einzigartig. Hier geht niemand aus Angst auf die Straße“, sagt Karl Brömmel. Brömmel sitzt in seinem Arbeitszimmer an einem nußbaumfurnierten Tisch, unter Kreuz und Jesus-Bildnis, und erklärt wie er den ersten SVler, wie er sie nennt, aufnahm. 2008 war das. „Ich kannte den Mann schon acht Jahre, hatte ihn in der JVA betreut, mit ihm viele Gespräche geführt. Über den Alltag im Knast, über seine Schuld, darüber, wie es dem Opfer geht“, erklärt Brömmel. Nicht einen Moment habe er gezögert, ihn aufzunehmen. „Ich hatte keine Bedenken, nicht die leisesten. Ich hatte ein gutes Bauchgefühl“, so der Katholik.

Dabei kennt auch er das Gefühl der Angst nur all zu gut. „Ich habe auch nicht die Gewissheit, dass da kein Rückfall passiert. Aber meist geht die Angst irgendwann weg“, sagt Brömmel. Er sagt nicht wie viele SVler er schon aufnahm. Aber es waren einige. Sie blieben für ein paar Monate, für ein paar Jahre. Zwei von ihnen wohnen bis heute in der religiösen Gemeinschaft.

Doch es ist nicht ganz korrekt zu behaupten, es habe nie Proteste in Werl gegeben. Es gab sie, im Juli 2010. Es war an einem Freitagnachmittag, als sich bei Karl Brömmel ein Gefangener der JVA Werl meldete: „Karl, da wird ein Kumpel von mir gleich freigelassen, kannst Du den nicht aufnehmen, wenigstens für dieses Wochenende?“.

Karl konnte. Vier Jahre hatte der Mann wegen Sexualdelikten in Haft verbracht, weitere 28 Jahre in Sicherungsverwahrung. Nun standen plötzlich Streifenwagen vor dem Gartenzaun des alten Konvikts. 24 Stunden am Tag. Und da tatsächlich wurden auch die Nachbarn unruhig, gingen auf die Straße. „Die Stimmung war so wie anderswo. Bald hieß es ‘Rübe ab!’“, erinnert sich Karl Brömmel. Brömmel jedoch lud sie zu Gesprächen ins Haus, setzte sie gar mit dem Entlassenen an einen Tisch. Am Ende, so erzählt er, hätten die Nachbarn sein Haus verlassen und in die Fernseh-Kameras gesagt, der Mann sei harmlos.

Familie gibt Entlassenen Halt

Der Mann blieb. Bis heute. Brömmel: „Sie können sich nicht vorstellen, wie der sich integriert hat. Er kocht und putzt, ist ein liebevoller, besorgter Mensch. Ein Teil unserer Familie“.

Eine Geschichte mit Happy End, so scheint es. Und auch im NRW-Justizministerium weiß man das Engagement der Brömmels zu schätzen: „Die Familie scheint den Entlassenen Halt zu geben!“ Doch täuscht all das nicht über ein Defizit hinweg. In Deutschland fehlen Einrichtungen, die Sicherungsverwahrte aufnehmen, sie beim Weg in die Normalität unterstützen. Menschen wie Karl Brömmel sind allenfalls Retter in der Not, weil sie es nicht ertragen, „wenn jemand unter der Brücke schlafen muss!“.