Die forensischen Kliniken werden immer voller. Vor allem, weil Patienten immer schlechtere Chancen auf Entlassung haben. In NRW gibt es 2432 Plätze – demgegenüber stehen aber 2766 Patienten, die untergebracht werden müssen. Kostensteigerung um 150 Prozent.
An Rhein und Ruhr.
Nach dem 22. September 1994 war in Eickelborn nichts mehr, wie es vorher war. Vor diesem Tag lebten die etwa 2400 Einwohner des westfälischen Dorfes, das zu Lippstadt gehört, im Frieden mit der forensischen Klinik, dem größten Arbeitgeber in ihrer Gemeinde. Doch dann starb Anna-Maria Eberth. Sieben Jahre, ein Kind aus dem Dorf. Vergewaltigt und ermordet von einem Klinikpatienten auf Freigang. Dirk Sklarzik hieß der Mann, er war damals 24 und einer der vielen schwer gestörten Sexualstraftäter in der Forensik von Eickelborn. Anna-Marias Tod erschütterte das Vertrauen der Gemeinde in die Einrichtung. Eine Bürgerbewegung wurde aktiv. „Sicherheit vor Therapie“ hieß sie. Ihr Name wurde symptomatisch für einen Zeitgeist, der das Gesicht der Forensik veränderte.
Massive Überbelegung in Nordrhein-Westfalen
In forensischen Kliniken sind Menschen im sogenannten „Maßregelvollzug“ untergebracht, die Straftaten begangen haben, aber als zumindest vermindert schuldunfähig gelten, weil sie psychisch krank oder süchtig sind. Nach dem Mord an Anna-Maria wurden Ausgangsregelungen für Forensik-Patienten geändert, um bislang frei stehende Gebäude in Kliniken wie Eickelborn oder Bedburg-Hau hohe Mauern gezogen. Die Veränderungen in der Forensik spiegeln sich aber am augenfälligsten in der seit den 1990er-Jahren stetig wachsenden Zahl der Patienten wider. In den alten Bundesländern waren 1999 in den forensischen Kliniken etwa 5500 Patienten untergebracht, im vergangenen Jahr waren es bereits fast 10 000. Für Nordrhein-Westfalen vermelden die Statistiker für den selben Zeitraum einen Anstieg von 1610 auf 2766 Forensik-Patienten – ein Plus von mehr als 70 Prozent. Trotz des Baus von sechs neuen Kliniken seit dem Jahr 2000 herrscht einmal mehr massive Überbelegung; den 2766 Patienten stehen 2432 Betten gegenüber.
Gestiegenes Sicherheitsbedürfnis
Auf den ersten Blick ist die Entwicklung schwer nachvollziehbar: Die Kriminalitätsstatistik zeigt rückläufige Zahlen bei Gewaltverbrechen, die für forensische Patienten typischen Krankheitsdiagnosen nehmen nicht zu. Hauptgrund für die Steigerung der Patientenzahlen ist das gestiegene Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung: Es wird einfach weniger entlassen. Eine Unterbringung nach Paragraf 63 des Strafgesetzbuches (der betrifft die psychisch kranken Straftäter) kann im Wortsinn lebenslang dauern. Weil aber eigentlicher Sinn der Unterbringung in einer Klinik die Therapie ist, müssen die Patienten eine Chance auf Entlassung haben, und der Behandlungserfolg muss regelmäßig überprüft werden.
Gutachter tun sich aber zunehmend schwer, positive Prognosen zu stellen. Das hängt zum einen mit einer veränderten Gesetzeslage zusammen: Früher musste ein Patient auf Bewährung entlassen werden, sobald „verantwortet werden kann zu erproben“, ob er er keine Straftaten mehr begeht. Heute heißt es, dass dies „zu erwarten“ sein muss. Zudem haben viele Gutachter Angst, in der Öffentlichkeit für falsche Prognosen zur Rechenschaft gezogen zu werden. Die Folge: Die Patienten bleiben immer länger hinter Gittern, selbst wenn sie eigentlich therapiert sind. In Nordrhein-Westfalen beispielsweise ist inzwischen ein Viertel der Patienten länger als zehn Jahre untergebracht.
Schizophrene Partienten mit Suchtproblemen
Außerdem landen in der Forensik immer häufiger Menschen, die nichts mit den Mördern, Vergewaltigern und Kinderschändern zu tun haben, vor denen sich die Öffentlichkeit fürchtet: „In der Forensik werden zunehmend Patienten untergebracht, die eigentlich in die Allgemeinpsychiatrie gehören“, sagt Norbert Leygraf, Leiter des Instituts für forensische Psychiatrie der Universität Duisburg-Essen. Das seien vor allem junge schizophrene Patienten, die zudem Suchtprobleme haben. „Sie können in der Allgemeinpsychiatrie nicht mehr hinreichend behandelt werden, weil dort die Behandlungszeiten immer kürzer werden“, so Leygraf. Diese Patienten seien aber in der Behandlung „ausgesprochen ungefährlich“ und in der Forensik „völlig übersichert“.
Zudem steigt die Zahl der Forensik-Patienten, die allein deshalb Straftaten begehen, weil sie süchtig sind und nach Paragraf 64 des Strafgesetzbuches in der Forensik untergebracht werden.
Kosten um 150 Prozent gestiegen
Die Entwicklung wird von Experten durchaus kritisch gesehen: Wird Sicherheit wichtiger als Therapie angesehen, bleibt Heilung aus. Die jungen, fehluntergebrachten Patienten laufen Gefahr, in der Forensik „hospitalisiert“ zu werden, warnt Leygraf. Überbelegung bedeutet auch immer größer werdenden Stress für Personal und Patienten. Und nicht zuletzt hat die Entwicklung finanzielle Konsequenzen: 1999 musste NRW noch umgerechnet knapp 100 Millionen Euro für die Forensik aufbringen, im vergangenen Jahr waren es bereits knapp 250 Millionen Euro. Bis 2020 sollen mindestens fünf neue forensische Kliniken gebaut werden. Nordrhein-Westfalen soll dann 3000 Forensikbetten vorhalten.
In Eickelborn, dort, wo alles angefangen hat, haben sie längst wieder ihren Frieden mit ihrer Klinik gemacht. Ortsvorsteher Anton Schütte sagt: „Wenn die Sicherheit gewährleistet ist, haben wir kein Problem mit der Forensik.“