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Das Ende eines blutigen Bundeswehr-Einsatzes nach zehn Jahren in Kundus

Die Bundeswehr zieht sich aus dem afghanischen Kundus zurück

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Foto: dpa
Nach zehn Jahren zieht die Bundeswehr im Herbst aus Kundus ab. Kein anderer Einsatzort hat die Truppe stärker geprägt, keiner mehr Opfer gefordert. Trotzdem halten viele Soldaten das gefährliche Engagement in Afghanistan für sinnvoll – anders als viele Deutsche in der Heimat.

Kundus, Ende 2003: Die Bundeswehr beginnt ihren Einsatz in der nordafghanischen Provinz. Damals gibt es eine einzige geteerte Straße in der gleichnamigen Provinzhauptstadt, in der sich die Menschen vor allem zu Fuß oder mit Pferdekutschen fortbewegen.

Heutzutage herrscht morgens Berufsverkehr, die Autos rollen beinahe durchweg über Asphalt, Kutschen sind fast verschwunden. Das ist das sichtbarste Zeichen dafür, wie sich die Region vor allem mit deutscher Hilfe entwickelt hat. Kundus hat zugleich die Bundeswehr verändert – deren Soldaten erst als Entwicklungshelfer in Uniform belächelt wurden und nun im Herbst als Kämpfer abziehen werden.

Anfangs wird der deutsche Standort als „Bad Kundus“ verspottet

Als Deutschland mit dem zivil-militärischen Wiederaufbauteam (PRT) in Kundus antritt, schätzt die Bundeswehr die Lage dort als „ruhig, aber nicht stabil“ ein – kaum jemand kann damals ahnen, wie zutreffend diese Analyse noch sein wird.

Die Deutschen übernehmen das PRT von den Amerikanern in der Provinz. Noch im Herbst 2003 sagt der damalige US-Kommandeur des PRT, Oberst Frederick Tawes: „Die Sicherheitslage ist wahrscheinlich die beste in Afghanistan.“ Seine Soldaten hätten während des ganzen Einsatzes keinen Schuss abgeben müssen. Angst müssten die Deutschen also keine haben. Am Anfang wird der neue deutsche Standort als „Bad Kundus“ verspottet.

Davon kann spätestens im Mai 2007 keine Rede mehr sein, als drei deutsche Soldaten bei einem Selbstmordanschlag in Kundus-Stadt getötet werden. Die Taliban sickern ein und bringen ganze Distrikte unter ihre Kontrolle, die Sicherheitslage verschlechtert sich stetig. In der Provinz Kundus kommt es am Karfreitag 2010 zu Kämpfen mit den Taliban. Es ist das schwerste Gefecht deutscher Soldaten seit dem Zweiten Weltkrieg. In keiner anderen Region in Afghanistan sind mehr deutsche Soldaten getötet worden als in dieser Provinz.

Im PRT Kundus erinnert der offizielle Ehrenhain an die Gefallenen, bei Truppenbesuchen gedenken dort Minister und die Kanzlerin der Toten. Soldaten haben ihren getöteten Kameraden aber auch eigene Mahnmale errichtet. Nahe des Hubschrauberlandeplatzes sind an einer Mauer große Holzkreuze für sieben Tote angebracht, darunter auch die drei Opfer vom Karfreitag 2010. Davor ist ein Gehege mit sieben Schildkröten und einer kleinen deutschen Flagge. „Schildkröten symbolisieren in diesem Land „ewiges Leben““, steht auf einem Schild. „Damit unsere gefallenen Kameraden in unseren Gedanken immer weiter leben, halten wir für jeden Kameraden eine Schildkröte.“

Luftschlag gegen die Taliban

Nicht nur mit dem Karfreitags-Gefecht, auch mit einem anderen verhängnisvollen Vorfall ist der Name Kundus untrennbar verbunden: Im PRT ordnet Oberst Georg Klein – später zum Brigadegeneral befördert – im September 2009 einen Luftschlag auf zwei von den Taliban gekaperte Tanklastwagen an. Zahlreiche Zivilisten sterben. Im öffentlichen Bewusstsein in Deutschland kommt spätestens jetzt an, dass die Bundeswehr in Afghanistan im Krieg ist – auch wenn die Bundesregierung diesen Ausdruck damals weiterhin vermeidet.

Drei Wochen vor dem Bombardement sagt Oberst Klein zur Lage in Kundus: „Es vergeht fast kein Tag mehr, an dem nicht geschossen wird.“ Die Taliban errichteten in der Provinz inzwischen mobile Straßensperren. „Die Soldaten müssen in dem Moment auf Angriffe eingestellt sein, wo sie das Tor des Lagers hinter sich lassen. Im Lager muss man mit Raketenangriffen rechnen.“

Oberstleutnant Olav Hinkelmann führt heute den Kampfverband in Kundus, er war schon 2009 dort im Einsatz. Hinkelmann erinnert sich an damals: „Jedes Mal, wenn eine Patrouille oder eine Teileinheit das Lager verlassen hat, musste sie damit rechnen, und in der Regel war das auch so, dass sie in Gefechtshandlungen verstrickt wurde.“ Die Truppe habe kämpfen müssen, „um sich selbst auch zu verteidigen“, sagt er. „Das hat uns alle geprägt, und das hat auch das Gefühl vor Ort bei den Soldaten bestärkt, dass man sich hier im Krieg befinde.“

Der Einsatz in Kundus und die schweren Gefechte dort hätten die Bundeswehr irreversibel verändert, sagt auch der Kommandeur der Internationalen Schutztruppe Isaf für Nordafghanistan, Jörg Vollmer. „Insofern kommen wir auch anders wieder zurück. Mit dem, was wir dort durchgeführt haben, was wir geleistet haben. Mit unseren Gefallenen, Verwundeten, die uns ja allen auf der Seele liegen“, sagt der deutsche Generalmajor. „Aber wir sind auch selbstbewusst geworden: dass wir den Auftrag erfüllen können, den eine Armee erfüllen können muss, wenn es sein muss: Nämlich kämpfen.“

Sicherheit und Frieden stehen trotz der Rückschläge weiter an erster Stelle

Bevor sie kämpfen durfte, igelte die Bundeswehr sich angesichts der eskalierenden Gewalt ein. Aus Berlin war die Anweisung gekommen, dass tote Soldaten unbedingt zu vermeiden seien. Den Taliban wird das Feld überlassen. Als die Lage beinahe aussichtslos erscheint, darf die Truppe schließlich doch noch in die Offensive gehen.

Seit 2010 sind auch US-Soldaten in Kundus stationiert, die nicht nur Schlagkraft und Kampferfahrung aufbieten, sondern mit ihren Hubschraubern eine lückenlose Rettungskette auch für die Deutschen garantieren können. Spezialkräfte gehen außerdem gezielt gegen Taliban-Anführer vor. Ende 2010 gelingt es, die Aufständischen zurückzudrängen. Verschwunden sind sie allerdings keineswegs.

Die Sicherheitslage in Kundus ist heute zwar immer noch schlechter als zu Beginn des deutschen Engagements Ende 2003, als es in ganz Afghanistan relativ ruhig war. Sie ist aber zumindest besser als zu den schlimmsten Zeiten 2009 und 2010. Vollmer wertet den Einsatz der Bundeswehr als Erfolg. Es sei gelungen, „weitgehend Sicherheit und Frieden in der Region aufrecht zu erhalten“, sagt er. „Da gibt es jetzt eine Generation, die zur Uni geht, 20 Jahre alt ist, die ist seit ihrem zehnten Lebensjahr dort weitgehend in Frieden aufgewachsen. Das erreicht zu haben, einer neuen Generation zehn Jahre Luft zu verschaffen, das ist schon ein Verdienst.“

Engagement der Deutschen hat die Region wirtschaftlich vorangebracht

Auch Provinzgouverneur Mohammad Anwar Dschegdalek bescheinigt den Deutschen, zu einer verbesserten Lage beigetragen zu habe. „Es gibt keinen Zweifel daran, dass das PRT und die deutschen Truppen eine bedeutende Rolle bei der Sicherheit in Kundus gespielt haben“, sagt er. „Ich bin sehr zufrieden damit, was die deutschen Truppen hier gemacht haben.“ Wirtschaftlich habe das deutsche Engagement die Region ebenfalls deutlich vorangebracht.

Der Gouverneur glaubt, dass afghanische Armee und Polizei die Sicherheit nach dem Abzug der Ausländer aus Kundus gewährleisten werden können. „Inshallah“ („So Gott will“), fügt er hinzu. Optimistisch ist auch der Vize-Polizeichef der Provinz, Oberst Ebadullah Talwar. „Ich bin zuversichtlich, dass die afghanischen Sicherheitskräfte in der Lage sind, ihr Land zu verteidigen“, sagt er. „Ich danke den deutschen Truppen dafür, in den vergangenen zehn Jahren Schulter an Schulter mit uns gestanden zu haben, um die Sicherheit zu gewährleisten.“

Weniger hoffnungsvoll als ihr Vorgesetzter äußert sich die 40-jährige Schukria. Als Polizistin und arbeitende Frau ist sie gleich doppelt im Visier von Islamisten. Die Witwe hat drei Kinder zu versorgen und braucht den Job im Polizei-Hauptquartier. „Meine engsten Angehörigen wissen davon und verstehen, dass ich Geldprobleme habe“, sagt sie. „Vor allen anderen halte ich den Job geheim. Wir sind im Krieg, ich will nicht, dass jemand davon weiß.“ Sie habe Angst vor Vergeltung durch die Taliban, die Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte bedrohen. „Wenn jemand davon erfährt, wird das auch meine Kinder gefährden.“

Schukria sagt, ihre Uniform trage sie nur im abgeriegelten Polizei-Hauptquartier, wo sie Besucherinnen kontrolliert. „Mit einer Uniform ist man immer ein Ziel.“ Wenn jemand außerhalb sie frage, wohin sie jeden Morgen aufbreche, sage sie, sie sei Lehrerin. Möglicherweise seien afghanische Armee und Polizei in der Lage, die Sicherheit zu gewährleisten. Sie und andere sorgten sich dennoch vor einer Zukunft ohne die Deutschen. „Ich habe Angst vor den Taliban.“

Ausbildung der afghanischen Polizei wird als Erfolg gesehen

Hauptmann Martin H. fährt eigentlich jeden Tag vom PRT ins Polizei-Hauptquartier, er hält dort den Kontakt mit afghanischen Offizieren im Koordinationszentrum für Operationen in der Provinz (OCCP). Heute allerdings ist H. mit seinem kleinen Trupp im PRT geblieben, die Männer sitzen in der Sonne und reinigen ihre Waffen. Eine Anschlagwarnung sorgt dafür, dass deutsche Soldaten nicht das Lager verlassen dürfen. Die Warnung ist ein Indiz dafür, wie fragil die Sicherheitslage kurz vor dem Bundeswehr-Abzug immer noch ist.

„Man hört oft Bedenken, was passiert, wenn Isaf, wenn die Deutschen rausgehen“, sagt H. „Nur man muss am Ende des Tages festhalten: Die arbeiten auch jetzt schon schwerpunktmäßig ohne uns.“ Isaf-Patrouillen gebe es in Kundus kaum noch. „Im Schwerpunkt sieht man afghanische Polizeikräfte, und wirklich auch Polizeikräfte und nicht mehr die Armee, weil auch die afghanische Armee in die zweite Linie zurücktritt und wirklich die zivile Polizei vorne steht.“

„Es war kein sinnloser Einsatz“

Der Hauptmann hält die in Deutschland verbreitete Wahrnehmung, wonach der Einsatz sinnlos war, für falsch. „Die Frage ist: Welchen Anspruch erhebe ich? Wenn ich den Maßstab anlege, ich bringe hier die Demokratie nach deutschem Vorbild her, dann haben wir sicherlich unsere Ziele nicht erreicht“, sagt H. „Aber wenn wir sagen, wir müssen ein Land auf einem gewissen Niveau stabilisieren, wir müssen dafür sorgen, dass sich Institutionen entwickeln können, wir müssen dafür sorgen, dass die nächsten Generationen auf eine Bahn gebracht werden, die es ihnen ermöglicht, durch Ausbildung und eine friedliche Umgebung voranzukommen – dann sind da die ersten Schritte getan.“

Das sieht auch Hauptmann Jörn D. so, der ebenfalls für die Bundeswehr im Koordinationszentrum für Operationen sitzt. „Ich darf nicht den gleichen Maßstab anlegen wie in Deutschland oder in den USA, sondern ich muss halt den afghanischen Maßstab ansetzen“, sagt er. „Und wenn ich hier für ein Stück Stabilität gesorgt habe mit einem kleinen Teilbeitrag, dann sage ich für mich, das war nicht umsonst. Auch wenn der Einsatz Leben gekostet hat und es Verwundungen gab: ich glaube nicht, dass es im Gesamtbild gesehen sinnlos war.“ (dpa)