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20 Jahre nach dem Brandanschlag in Solingen – Der Schmerz von Mevlüde Genç vergeht nie

20 Jahre Solingen – Der Schmerz von Mevlüde Genç vergeht nie

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Jahrestag Solinger Brandanschlag Foto: dpa
Mevlüde Genç verlor bei dem Anschlag in Solingen vor 20 Jahren fünf Angehörige. Heute sagt sie: „Wir müssen in Frieden leben.“ Solingens Integrationspolitik gilt heute als vorbildlich, und in diesem Jahr hat die Stadt dutzende Veranstaltungen organisiert rund um den Gedenktag.

Solingen. 

Sie sind mit Handschuhen gekommen, die ganze Klasse 7d der Geschwister-Scholl-Schule, mit Zangen und zehn Plastiksäcken für den Müll. Aber da ist nichts an der Unteren Wernerstraße 81, rein gar nichts und nicht einmal mehr Abfall. Ein Mädchen schaut fragend in das Loch, in diesen Abgrund, begrenzt von ein paar dunkel gewordenen Ziegelsteinen: „Ist das noch von dem Haus?“

Es ist noch von dem Haus. Von dem „Haus der Familie Genç“, wie es in Erinnerung geblieben ist, ausgebrannt am Pfingstsamstag des 29. Mai 1993, heute vor 20 Jahren. Es ist – vor dem Hintergrundrauschen der Asylrechtsdebatte – der schlimmste jener vielen ausländerfeindlichen Angriffe aus den frühen 90er-Jahren: Rostock, Hoyerswerda, Hünxe, Mölln. Und Solingen: Fünf Menschen sterben, drei davon Kinder, 14 werden schwer verletzt. Die Tat ist furchtbar, doch danach ist es schlagartig vorbei mit den öffentlichen Angriffen auf Heime und Häuser von Ausländern. Aber umgekehrt steht seitdem jedes Feuer mit türkischen Opfern zuerst unter Neonaziverdacht.

Und unter vielen Deutschtürken ist mit Solingen etwas verrutscht. „Bis dahin hatte ich das sichere Gefühl: Ich bin hier sicher im Westen, wir sind es“, sagt Ayla Wessel. Die Bochumer Dozentin engagiert sich seit Jahren für das Gedenken: „Dieses Sicherheitsgefühl habe ich nie wiedergewonnen“, sagt sie. Aber sie sagt auch: „Der Anschlag galt uns allen. Auch Ihnen! Aber wir lassen uns nicht unterkriegen.“

Bedauert, aber noch mehr bewundert

Mevlüde Gen

ç

geht gebeugt

, schwer auf einen Stock gestützt. Sie ist jetzt 70 und sagt, sie kann den Schmerz nicht mehr tragen. Sie hat auch keine Tränen mehr. Damals, 1993, habe sie „nachts geweint und mich tagsüber um meine anderen Kinder gekümmert“. Dabei war sie nach Deutschland gekommen, mit 27, damit es ihnen besser gehen sollte, sie „die Chance bekamen zu lernen, aber leider erfüllte sich die Hoffnung nicht“.

Mevlüde Genç, die Frau, die Töchter, Enkel, Nichte verlor, ist viel bedauert worden, mehr aber noch: bewundert. Weil sie von Versöhnung sprach, gleich nach der Feuernacht, weil sie fordert: „Wir müssen in Frieden miteinander leben, wie Geschwister!“ Sie sagt solche Dinge auf Türkisch, nach über 40 Jahren in dem Land, das sie „meine Heimat“ nennt. Und sie wird nicht müde, dem Staat zu danken, weil er die Menschen schützt. Sie vertraut Deutschland. Sie vertraut seinen Menschen und sagt das in alle Mikrofone, die man ihr nun wieder vorhält. Sie glaubt, sie muss darüber reden, „wie soll man sonst davon erfahren“?

Vergeben aber kann Mevlüde Genç nicht. „Sie haben meine Kinder getötet, die leben wollten. Ich musste sie in Särge legen.“ Materielles war ihr nie wichtig, „es reicht mir, wenn ich Brot und Zwiebeln habe“ – aber jener Tag vor 20 Jahren hat sie gelehrt: „Der Schmerz zerstört alles, was man mit Geld errichtet hat.“

Ein Hakenkreuz wird zerrissen

Es ist eines dieser Mahnmale, die leben.

Zwei stählerne Silhouetten zerreißen ein Hakenkreuz, und mit der Zeit versinkt dieser Anblick hinter einer Wand verschweißter Ringe; auf den Ringen stehen Namen von Menschen, die sich bekennen gegen Rassismus. „Wir haben damals gesagt, in 30, 40 Jahren verschwindet das Hakenkreuz, wie bis dahin aller Rassismus überwunden ist. Heute bin ich nicht mehr sicher“, sagt Heinz Siering (63). Er leitet die Jugendwerkstatt, in der seit 19 Jahren daran geschweißt wird – in dem Tempo, wie Menschen sich als Ringe melden: Über 5000 sind es inzwischen.

Das Mahnmal steht an einer seltsamen Stelle: im geografischen Mittelpunkt des Ortes, aber sehr weit ab von den Menschenströmen der Innenstadt. Man kann diese Lage verurteilen – etwas unscheinbar an einer Kreuzung, doch neben dem Berufskolleg mit 1000 Schülern – aber eigentlich hat Solingen das meiste richtig gemacht seit 1993: Die Integrationspolitik gilt als vorbildlich, Preise wurden geschaffen für Zivilcourage und für Versöhnung, und als die Salafisten kamen im Frühjahr 2012, haben Stadt und muslimische Vereine dazu die richtigen Worte gefunden.

„Es ist unsere Überzeugung, dass das Zusammenleben in Vielfalt uns weiterbringt“, sagt Oberbürgermeister Norbert Feith (CDU). Jetzt, rund um den Jahrestag, gibt es eine Überfülle von Veranstaltungen: Man merkt das Bemühen und ist beruhigt. Denn natürlich gibt es die Solinger, die den Anschlag lieber in Vergessenheit geraten sähen; und die Gerüchte über Familie Genç führen längst ein Eigenleben. Dass sie nicht arbeiten, dass sie nichts zahlen müssten. Alles Unsinn, aber auch deshalb sagt Heinz Siering: „Jede Veranstaltung, auch die schlechteste, ist besser als keine.“

Solingen wurde 1993 weltweit bekannt

Die

damals noch gar nicht geboren waren,

stehen 20 Jahre später etwas unentschlossen am Tatort. „Ich bin gegen Rassismus“, sagt einer der Geschwister-Scholl-Schüler in eine Kamera. „Das sind wir hier alle!“, mischt sich ein Mädchen ein, „sonst wären wir nicht hier.“ Die 7d hatte noch keine Nazis im Geschichtsunterricht, Drittes Reich kommt später. „Entsprechend hatte sie auch noch keine Neonazis“, sagt Lehrer Christian Hüsgen. „Eigentlich wussten sie gar nichts darüber.“ Bis er, der Solinger, der damals 16 war, ihnen die Geschichte erzählt hat: Wie er „vor Solingen“ auf Reisen erklärte, seine Stadt liege „zwischen Düsseldorf und Köln“. Wie er „nach Solingen“ nur noch den Namen sagen musste, und jeder bis nach Amerika wusste: „Wo das Haus gebrannt hat.“ Hüsgen sagt, er hat sich geschämt für seine Stadt.

Und das haben seine Schüler, zwölf, 13 Jahre alt, daraus gelernt: „Egal ob groß, klein, dick, dünn“, sagt Corwin, „alle Menschen sind besonders.“ Sie sind nicht einig, ob man hier je wieder ein Haus bauen sollte, aber sie haben einen Baum gepflanzt, unten am Fuß des Hügels. Die Kinder hängen ihm bunte Wünsche in die Zweige; „Frieden“, schreiben sie, „Miteinander“ kommt viel vor. Jannis notiert: „Entschuldigungen.“ Warum? „Die Täter können sich doch immer noch entschuldigen?“, fragt der Zwölfjährige, er schaut ein wenig ratlos auf die Stelle, wo das Haus mit der Nummer 81 stand. „Wenigstens.“