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Armutsforscher Butterwegge warnt vor fataler „Zeitenwende“ in Deutschland

Krise folgt auf Krise: Armutsforscher Christoph Butterwegge befürchtet, dass auf Deutschland eine andere Form der Zeitenwende zukommt.

Armutsforscher Butterwegge hat ein neues Buch geschrieben.
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"Zeitenwende" ist das Wort des Jahres 2022

"Zeitenwende" ist das Wort des Jahres 2022. Das gab die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) in Wiesbaden bekannt. Der Begriff bezeichnet allgemein einen Übergang in eine neue Ära und wurde von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) im Zuge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine prominent verwendet.

Er ist Deutschlands bekanntester Armutsforscher und war 2017 von der Linkspartei sogar als Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten nominiert. Nun hat der Politikwissenschaft Professor Dr. Christoph Butterwegge ein neues Buch veröffentlicht.

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„Deutschland im Krisenmodus“ (Beltzt Juventa, 270 Seiten, 24 Euro). Der 73-Jährige blickt im Interview mit unserer Redaktion auf die gesellschaftlichen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie, des Ukraine-Krieges und der explodierenden Inflation. Er befürchtet, dass Deutschland nun nicht nur vor einer „Zeitenwende“ in der Sicherheitspolitik stehen wird, sondern auch in der Sozialpolitik – mit gravierenden Folgen für das gesellschaftliche Klima im Land.

Interview mit Professor Butterwegge: „Krisenkaskade schüttelt die Gesellschaft durch“

Ihr Buch heißt „Deutschland im Krisenmodus“. Inwiefern unterscheidet sich diese Phase aktuell von früheren Krisenzeiten, wie etwa der Ölpreiskrise in den 1970er-Jahren oder dem wirtschaftlichen Umbruch mit Massenarbeitslosigkeit nach 1990 in Ostdeutschland?

Butterwegge: „Zum einen handelt es sich nicht nur um eine Wirtschaftskrise. Zum anderen verzeichnen wir heute eine Häufung der Krisen, die sich auch miteinander verschränken. So ging die Covid-19-Pandemie, kaum dass sie vorüber war, in die Folgen des Ukraine-Krieges über. Die Inflation, die schon während der Pandemie begonnen hatte, verschärfte sich durch die Energiepreisexplosion. Hinzu kommt noch die drohende Klimakatastrophe. Da sieht man, dass es sich um eine Krisenkaskade handelt, die unsere Gesellschaft durchschüttelt.“

Sie sprechen in Ihrem Buch davon, dass man den Begriff „Zeitenwende“ nach Putins Überfall auf die Ukraine nicht nur auf den sicherheitspolitischen Aspekt reduzieren kann. Was kommt noch für eine „Zeitenwende“ auf uns zu?

„Ich befürchte, dass auf die von Olaf Scholz ausgerufenen militärpolitischen ‚Zeitenwende‘ eine sozialpolitische Zeitenwende folgt. Ich mache das zum Beispiel fest an den monatelangen Kontroversen um die Kindergrundsicherung. Familienministerin Lisa Paus hat 12 Milliarden Euro dafür gefordert, damit endlich die seit 30 Jahren steigende Familienarmut durch die Einführung der Kindergrundsicherung verringert, wenn nicht beseitigt wird. Christian Lindner erklärte als Finanzminister 2 bis 3 Milliarden Euro für ausreichend. Schließlich hat die Regierungskoalition 2,4 Milliarden Euro bewilligt. Inzwischen steht die Kindergrundsicherung ganz auf der Kippe. Dabei steht ihr mit der Unionsmehrheit im Bundesrat die höchste Klippe erst noch bevor. Um die Armut von Familien wirksam zu bekämpfen, fehlt das Geld, während der Bundeswehr über Nacht 100 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt wurden.“

Sie meinen also, es wird künftig in der Sozialpolitik noch mehr gespart werden und das Geld zum Militär umverteilt?

„Absehbar ist jedenfalls, dass der Rüstungshaushalt angesichts des 2-Prozent-Ziels der NATO von jetzt knapp 52 Milliarden Euro auf rund 85 Milliarden Euro im Jahr 2028 angehoben werden muss. Allein die Anschubfinanzierung für die Kampfbrigade in Litauen soll zusätzlich über 10 Milliarden Euro kosten. Wenn man zwecks Hochrüstung auf die Bekämpfung der Armut verzichtet, was für Rüstungskonzerne wie Rheinmetall riesige Gewinne verspricht, wäre das fatal. Hierdurch würde unsere Gesellschaft noch stärker als durch die jüngsten Krisen gespalten.“

Das neue Buch von Professor Dr. Christoph Butterwegge.
Das neue Buch von Professor Dr. Christoph Butterwegge. Foto: Beltz Juventa

Welche Folgen prognostizieren Sie für die Gesellschaft?

„Einerseits breitet sich die Armut mehr und mehr in die Mitte der Gesellschaft hinein aus. Andererseits konzentriert sich das Vermögen immer stärker in wenigen Händen. Wenn man den Sozialstaat abbaut, bedeutet das für mehr Menschen, in noch größere soziale Schwierigkeiten zu geraten. Die sich verstärkende Unsicherheit und Zerrissenheit der Gesellschaft gibt wiederum Rechtspopulisten und Rechtsextremisten großen Auftrieb, weil vor allem Mittelschichtangehörige das Vertrauen in die demokratischen Parteien verlieren.“

Butterwegge: Pistorius erzeugt eine „Vorkriegsstimmung“

Sie machen sich Sorgen um den sozialen Frieden, aber wenn Putins Russland in der Ukraine siegt oder andere Staaten angreift, drohen weitaus größere soziale Verwerfungen.

„Derzeit wird mit Begriffen wie ‚Kriegstüchtigkeit‘ von Boris Pistorius und anderen Politikern eine Vorkriegsstimmung erzeugt, obwohl beide Weltkriege nicht von Russland, sondern von Deutschland angezettelt worden sind. Nur zur Erinnerung sei hinzugefügt: Russland wurde zweimal von Deutschland angegriffen, und jetzt schießen deutsche Panzer, in denen angegriffene Ukrainer sitzen, erneut auf Russen. Hatte man die alte Bundesrepublik aufgrund der NS-Vergangenheit und des preußisch-deutschen Militarismus als Zivilgesellschaft aufgebaut und zu Wohlstand gebracht, wird jetzt das größte Aufrüstungsprogramm seit 1945 vorangetrieben und ein Veteranentag eingeführt, den man als Remilitarisierungsindiz deuten kann. Ich sehe keine militärische Bedrohungslage, die eine solche Hysterie rechtfertigen würde. Die russische Armee ist heute schwächer als vor zweieinhalb Jahren. Damals hat Russland auch keinen NATO-Staat, sondern ein Land angegriffen, von dem es fürchtete, dass seine Aufnahme in das westliche Militärbündnis das internationale Kräfteverhältnis massiv zu seinen Ungunsten verschieben würde. Deutschland ist – anders als Russland – von Verbündeten umgeben. Die Rüstungsausgaben der USA sind zehnmal so hoch wie die Russlands, und selbst die Militärausgaben der europäischen NATO-Mitglieder übersteigen noch den russischen Gesamthaushalt. Selbst wenn Russland wollte, könnte es nach seiner verlustreichen Ukraine-Invasion nicht weiter nach Westen vorstoßen.“

Sie kritisieren auch die Waffenlieferungen an die Ukraine, aber ohne die Hilfe des Westens wäre der Strom an Kriegsflüchtlingen vermutlich noch größer, weil mehr Territorium durch Putin erobert worden wäre. Das würde soziale Probleme in Deutschland, wie etwa den Wohnungsmangel, weiter verschärfen.

„Ich bin ja nicht der Meinung, dass die Ukraine ihr Staatsgebiet russischen Truppen überlassen, sondern dass sie mit Russland einen Waffenstillstand aushandeln und Friedensverhandlungen führen soll. Das ist die einzige Lösung, um dem Sterben so vieler Menschen ein Ende zu setzen, statt mit immer weitreichenderen Waffen des Westens den Krieg zu eskalieren. Im Zweifelsfall wäre es besser, Flüchtlinge zu unterstützen, als das weitere Gemetzel auf dem Schlachtfeld zu finanzieren. Das Töten muss endlich beendet werden, die Zahl der Opfer ist schon viel zu hoch.“

Sie haben über die alte Bundesrepublik, die Bonner Republik, gesprochen. Welche Bonner Jahre sind Ihr Gegenbild zur heutigen Berliner Republik?

„Das Gegenbild sind die frühen 1970er-Jahre unter Willy Brandt, als Reformen ganz anders verstanden wurden. Reformen zu verwirklichen, hieß mehr Demokratie, mehr Mitbestimmung, mehr soziale Gerechtigkeit, mehr soziale Ansprüche beispielsweise für Rentnerinnen und Rentner sowie Zurückdrängung der Armut. Die Menschen hatten insgesamt den Eindruck, dass es aufwärts ging und die Bundesregierung um sozialen Ausgleich bemüht war. Gegenwärtig ist das genaue Gegenteil der Fall. Unter dem Einfluss des Neoliberalismus ist Ungleichheit zu etwas Gutem erklärt worden. Sie soll angeblich die Menschen motivieren, mehr zu leisten und sich mehr anzustrengen.“

„Verrat an den Grundwerten der SPD“

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass die Zeitenwende ein zweiter Verrat der SPD an der eigenen Kernklientel sei, nach der Agenda 2010. Aber ist die Regierungsbilanz seit 2021 so schlecht? In den ersten Jahren der Ampel-Legislaturperiode gab es Sprünge beim Mindestlohn, starke Rentenerhöhungen, mehr Kindergeld, eine Ausweitung beim Wohngeld und ein höheres Bürgergeld.

„Sowohl die Erhöhung des Mindestlohns wie auch das Bürgergeld waren zwar ein kleiner Schritt nach vorn, aber kürzlich hat die Koalition wieder eine Rolle rückwärts hin zu Hartz IV eingeleitet. Sparen will man ausgerechnet bei den Ärmsten, durch einen zweimonatigen Leistungsentzug gegenüber vermeintlichen Totalverweigerern, von denen es nur ganz, ganz wenige gibt. Von den neuerlichen Sanktionsmaßnahmen der Ampel getroffen werden hauptsächlich Menschen mit gesundheitlichen und psychischen Beeinträchtigungen, die aus Angst vor dem Jobcenter dessen Schreiben gar nicht mehr öffnen. Statt die Probleme dieser Menschen zu lösen, nimmt man ihnen entgegen dem Sanktionsurteil des Bundesverfassungsgerichts das Existenzminimum. Dies ist verfassungswidrig und inhuman. Allerdings bezieht sich mein Vorwurf des Verrats an den Grundwerten der SPD nicht nur auf die Bekämpfung von Armut und sozialer Ungleichheit, sondern auch auf die Außen- und Militärpolitik. Es war immer eine Grundmaxime der SPD, keine Waffen in Krisen- und Kriegsgebiete zu liefern. Das ist so ähnlich wie der 4. August 1914, an dem die SPD-Abgeordneten den Kriegskrediten im Reichstag zugestimmt haben und dem Kaiser in den Ersten Weltkrieg gefolgt sind. Mit den friedenspolitischen Grundsätzen der alten Sozialdemokratie hat dies nichts mehr zu tun.“


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Sie plädieren für einen inklusiven Sozialstaat mit einer solidarischen Bürgerversicherung, einer armutsfesten, bedarfsgerechten und repressionsfreien Grundsicherung sowie einer höheren Besteuerung von Kapitaleinkünften, Dividenden, Mieten und Pachterlösen. Wo sehen Sie denn politische Kräfte, die einen solchen Kurswechsel realisieren könnten?

„Wenn man das Erstarken des Rechtspopulismus und Rechtsextremismus gerade in den ostdeutschen Bundesländern sieht, kann einem angst und bange werden, was die demokratische, soziale und humane Entwicklung der Bundesrepublik angeht. Aber wäre ich kein Optimist, würde ich darüber auch kein Buch schreiben. Um eine sozial-ökologische Wende herbeizuführen, müssten sich die dazu bereiten Kräfte in den Kirchen, Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbänden, aber auch Flüchtlingsinitiativen und Arbeitslosenforen zu breiten Bündnissen zusammenschließen, um außerparlamentarischen Druck auf die politischen Entscheidungsträger zu entfalten.“

Kann die neue Wagenknecht-Partei BSW dabei eine Rolle spielen?

„Zumindest in sozialen Fragen und hinsichtlich der Friedenspolitik kann das BSW eine positive Rolle spielen. Das ist eine junge Partei, die noch in den Anfängen steckt. Womit ich Probleme habe, sind ihre Klima- und Flüchtlingspolitik. Ich halte die neue Partei aber aus demokratietheoretischen Gründen für sinnvoll, um der AfD jene Wählerinnen und Wähler abspenstig zu machen, die keine Neonazis, sondern von den etablierten Parteien tief enttäuscht sind. Es ist dringend nötig, dass Menschen, die verunsichert sind, die das Gefühl haben, ihre Interessen würden parlamentarisch von keiner demokratischen Partei vertreten, nicht aus reiner Frustration und Alternativlosigkeit nach Rechtsaußen abwandern.“