Rheinberg.
Silke war etwa acht Jahre alt, als ihr zum ersten Mal bewusst wurde, dass sie anders war als andere Kinder. „Immer sehr ernst und in mich gekehrt.“
Wenn sie mit Freundinnen spielte, empfand sie das oft so, als wenn sie gar nicht dazu gehörte, sondern neben der Gruppe stand. „Ich war immer irgendwie traurig.“ Alles nahm sie sich zu Herzen, ließ sie ganz nah an sich heran, jede traurige Nachricht in der Zeitung machte sie noch trauriger. Und dann waren da auch die Gedanken an den Tod, „wie es wäre, wenn ich mich umbringen würde“.
Längst eine
Volkskrankheit
Heute ist Silke 42 und weiß, dass sie krank ist. Sie leidet an Depressionen. Längst eine Volkskrankheit, aber eine, über die viel zu wenig gesprochen wird. Betroffene schweigen oft, aus Angst vor Häme, vor Unverständnis. So wäre Silke zum Beispiel eine reiche Frau, hätte sie jedes Mal, wenn ihr jemand gesagt hat „lass dich nicht so hängen“ einen Euro bekommen.
Wer die 42-Jährige erlebt, staunt. Die Frau kann doch keine Depressionen haben. Auf den ersten Blick wirkt sie selbstbewusst, hat ein offenes Lächeln, ein Mensch, der mit beiden Beinen auf dem Boden steht. Das ist die offizielle Silke. Diejenige, die die Maske der starken Frau aufgesetzt hat. Was unglaublich anstrengend ist. Vor ein paar Jahren konnte sie selbst diese Maske nicht mehr aufrechterhalten. Es war im England-Urlaub mit einer Freundin.
„Der Urlaub war sicher wunderschön, aber ich konnte ihn nicht genießen.“ Irgendwann habe sie sich in der Toilette eingeschlossen und nur noch geheult. Ein Moment, in dem sie merkte, „ich brauche Hilfe“. Ein großer Schritt für Silke, bis dahin hatte sie sich selbst durchgewurschtelt, wie sie es ausdrückt, „aber jetzt zog ich ja auch meine Umwelt mit runter“. Freunde und Familie, die oftmals genauso hilflos wie die Kranke selber sind. Silke machte eine Therapie. Auch, weil ihre Depression mittlerweile Panikattacken auslöste.
Bitte nicht: Lass dich
nicht hängen
Die Panikattacken habe sie durch die Therapie in den Griff bekommen, sie habe gelernt, nicht mehr alles so nah an sich ranzulassen. Und es sei ihr klar geworden, dass in ihrem Leben nicht alles dunkel und grau gewesen ist. Erinnerungen an Schönes ist wieder hochgekommen.
Irgendwann war die Therapie beendet, und auch wenn Silke mit ihren Panikattacken umgehen kann – die Depression ist geblieben. Da sind immer wieder die Gedanken an den Tod, nicht unbedingt an ihren. Sie macht sich immer Sorgen. Wenn ihr Vater unterwegs ist zum Beispiel, es könnte ihm was passieren. Wenn Freunde oder Familie Urlaubsreisen unternehmen und sich vielleicht erst am nächsten Tag melden, dass sie gut angekommen sind – „dann kriege ich Panik“. Manchmal reiche irgendwas in den Nachrichten, ein Lied im Radio ein Geruch irgendwo draußen und alles fängt wieder von vorne an. Etwas, das gesunde Menschen schlecht bis gar nicht verstehen können, wie sie weiß. „Das wird schon wieder“, ist auch so ein Lass-dich-nicht-hängen-Satz, den Silke nicht mehr hören kann. „Das hat nichts mit hängen lassen zu tun, das passiert einfach.“
Lange Wartezeiten
bei Therapeuten
Zurzeit denkt Silke darüber nach, es noch einmal mit einer Therapie zu versuchen. Nur: Erst mal einen Therapeuten finden. Wartezeiten bis zu zwei Jahren seien nicht ungewöhnlich. „In zwei Jahren kann ich mich ja schon drei Mal umgebracht haben.“ Okay, im Moment sei sie relativ stabil, und neulich habe ihr erst jemand gesagt, wenn sie sich jetzt um einen Therapeuten kümmere, dann habe sie jemand, wenn’s ihr mal wieder schlechter gehen würde. Klingt logisch.
Das Stichwort Therapeuten macht Silke manchmal wütend. Viel zu lange Wartezeiten, viel zu wenige Praxen. Silke ist seit dem Sommer in der Selbsthilfegruppe Depressionen in Rheinberg. Hier hört sie immer wieder Geschichten von Betroffenen, die aus der Kur kommen und zu Hause dann keinen Therapeuten finden würden.
„Da ist eine solche Kur doch praktisch Geldverschwendung.“ In der Kur gebe es Therapeuten en masse, der Patient fange an, an sich zu arbeiten, „und dann kommt er zurück und keiner ist da, der ihm weiter hilft.“ Weil die Wartezeiten eben so lang seien.
An ihrem Arbeitsplatz sei ihre Krankheit kein Thema. Aus gutem Grund. Silke kennt die Geschichte eines Freundes, der gerade wegen seiner Depression in einer achtwöchigen Kur war. Die Diagnose für den Arbeitgeber war eine andere, irgendwas mit dem Magen. „Er hätte in seiner Position sonst Angst, seinen Job zu verlieren.“ Überhaupt, redeten außer in der Selbsthilfegruppe die wenigsten Menschen über ihre Krankheit. Es sei in Tabu-Thema, es sei denn, es gibt prominente Fälle. Der Selbstmord des Nationaltorwarts Robert Enke zum Beispiel. „Da merken dann andere auch mal, dass die Krankheit doch nicht nur was mit sich hängen lassen zu tun hat.“
Im Moment gehe es ihr gut. Wenn es immer heißt, Weihnachten sei für Menschen mit Depressionen eine besonders schwierige Zeit, kann sie darüber nur den Kopf schütteln. „Das ist doch nur, weil so viele versuchen, möglichst perfekt zu sein. Das klappt doch eh nicht. Ich hoffe einfach nur, der Braten gelingt, das reicht doch schon.“
Einmal nur das
Schöne sehen
Da kommt ihr Humor durch. Der und ihre Sturheit, sagt sie von sich selbst, hätten bislang ihr Überleben garantiert. Gerade auch ihre Sturheit, nicht aufzugeben und keine Medikamente, sprich Antidepressiva, nehmen zu wollen. Das sind die Momente, in denen sie sich sagt, dass sie sich noch einmal zu einer Therapie aufrafft. Auch, um Wünsche wahr werden zu lassen. Denn wenn sie sich etwas wünschen dürfte, dann dieses: „Einfach mal ohne die negativen Gedanken sein, nur das Schöne sehen zu können. Wenigstens für ein paar Stunden.“