Die Hamburger Musikerin Anna Guder spielte in der S-Bahn den Prince-Song „Kiss“. Das Video davon sammelt Millionen Klicks weltweit.
Hamburg.
Als der Wahnsinn vor knapp zwei Wochen begann, war bei Anna Guder alles unauffällig. Sie wollte mit ihrem Freund in Dänemark Urlaub machen, hatte 200 Facebook-Freunde („davon die Hälfte aus meiner Familie“), exakt null Interview-Anfragen und einige Hundert Klicks unter ihren Videos. Dann wurde sie kurz vom Internet verschluckt und als Star auf Zeit wieder ausgespuckt. Seitdem ist alles anders.
Inzwischen hat Anna Guder, die sich als Musikerin Kiddo Kat nennt, mehr als 30.000 Facebook-Freunde und Gesprächsbedarf bei ungefähr allen deutschen Medien ausgelöst. Die unglaublichste Zahl steht dabei unter einem ihrer Videos: 66 Millionen. „66 Millionen Leute haben unseren Auftritt gesehen“, sagt sie. „Wahnsinn.“ Auch ein paar Tage nach dem großen Knall sei das für sie: unglaublich.
Noch genießt sie den Rummel
Noch ist die junge Frau mitten in der Hype-Blase. Noch genießt sie den Aufruhr, der entstand, weil sie nach der Musikmesse in Frankfurt einen S-Bahn-Auftritt von sich und der Musikerin Heidi Joubert ins Internet stellte. Dabei covert sie in dem verwackelten Kurzfilm nur den Prince-Song „Kiss“, lässt einen Fahrgast spontan mitsingen und verbreitet gute Laune. Doch weil nicht nur der ganze Waggon von der couragierten Vorstellung begeistert war, sondern wenig später das halbe Netz, ist das Video zum Welthit geworden. Und die 25-Jährige gleich mit. Anna Guder, gebürtige Berlinerin, wohnhaft in Hamburg, wurde mit 66 Millionen Klicks ultrahocherhitzt. Und das nur mit einer Version ihres Videos auf Facebook. Hinzu kommen noch ein paar Millionen Klicks auf Facebook-Seiten, die das Video geteilt haben, und auf Youtube natürlich. Für einen vergleichbaren Bekanntheitsgrad brauchen Musiker sonst Jahre. Wenn’s gut läuft.
Gemessen daran sitzt Kiddo Kat alias Anna Guder nun ziemlich unbehelligt im Café La Paz in Hamburg-Eimsbüttel, beeindruckend lange Haare, offensive Unbeschwertheit, das Shirt ist Oberteil und Botschaft zugleich: Popcorn. Mit ihrem Freund Philipp, auch Musiker, wohnt sie im beliebten Kiez, „weil wir so wahnsinnig hip sind“, wie sie unmissverständlich selbstironisch sagt. Vor zwei Jahren ist sie seinetwegen und wegen des Popkurses an der Musik-Hochschule nach Hamburg gezogen. Doch jetzt erst mal Cappuccino, Brötchenauswahl, Apfelschorle. Rockstar-Frühstück? Deine Mudder!
„Ich kann diesen Lifestyle“
Sie wirkt immer noch ein bisschen aufgekratzt, scheint die Tage im Fokus des unnatürlich gesteigerten Interesses aber gut verkraftet zu haben. Sie habe sich einfach nicht so große Gedanken gemacht, sondern viel geredet und wenig geschlafen. Zwei, drei Leute mehr haben zwischenzeitlich ihre Auftritte koordiniert. Flüchtiger Luxus. Im Grunde, sagt sie, könne sie ewig so weitermachen. „Die vielen Termine haben mir gezeigt: Ich kann diesen Lifestyle.“ Aber natürlich dämmert ihr, dass es nicht ewig so weitergehen wird.
Der internationale Zuspruch aus Neuseeland oder Vietnam, die plötzliche Aufmerksamkeit der Medien, der rasante Aufstieg in den Klick-Millionärshimmel – das alles sei ja nicht normal. Das wisse sie auch. Für eine Musikerin am Karriereanfang sei die Entwicklung aber „ein Geschenk“. „Musikalisch bin ich dadurch von der Bittstellerin zur nachgefragten Künstlerin geworden.“ Deshalb hat sie auch schnell eine Solo-Tour mit einer großen Konzertagentur eingetütet. Man müsse die Gunst der Stunde nutzen, das Eisen schmieden, so lange es heiß ist. Und das Eisen, das ist eben gerade sie.
Heiratsanträge via Facebook
Dass die Zuneigung irgendwann erkaltet, sei ihr klar. Schon jetzt lassen die Medienanfragen nach. „Aber warum soll ich mir Sorgen über die Zeit nach dem Hype machen? Ich werde weiter Songs schreiben und meine Musik spielen.“ Sie sei nach wie vor Anna, eine normale 25-Jährige, die Beyoncé mag und „manchmal ein bisschen über den Zeiger ist“. Die wohltuend ungeschliffen redet. Und die sich von unverhofft eingegangenen Heiratsanträgen bei Facebook („wie romantisch“) nicht verrückt machen lässt. Vom Nobody zum Star und zurück – und wenn schon.
Tatsächlich sitzt da ja jemand mit Hummeln im Hintern, jemand, der seine Chance will. Und sie gerade bekommt. Manchmal überschlagen sich ihre Gedanken beim Reden, aber sie ist gerade dabei, alles zu ordnen. Sie spricht viel über ihren behutsamen Karriereaufbau, das Private lässt sie lieber raus. Sie will als Musikerin wahrgenommen werden. Darüber gibt sie dosiert und reflektiert Auskunft. Soul und Funk – dafür stehe Kiddo Kat. „Und schreib bitte, dass ich Flo Mega mag!“
Agent hat „so etwas noch nie erlebt“
Am Wochenende war sie das erste Mal seit dem großen Erfolg bei ihren Eltern in Berlin. „Das erdet.“ Ihr Vater sei stolz, ihre Mutter habe erst mal Tee gemacht. Der Heimatbesuch habe ihr ein bisschen Normalität in dieser schrägen Zeit verschafft. Denn zur skurrilen Ironie dieser Geschichte gehört, dass Prince starb, als das „Kiss“-Cover aus der Frankfurter S-Bahn richtig heiß lief. „Verrückt, oder?“, sagt Anna Guder. „Vor zwei Wochen wäre niemand auf die Idee gekommen, mich zum Tod von Prince zu befragen. Und dann passiert genau das. Dabei war ich nur genauso traurig wie alle anderen.“ Auch ihr Hamburger Agent Hasko Witte wurde von den Ereignissen überrollt: „Ich betreue jetzt seit 25 Jahren junge Künstler, aber so etwas habe ich noch nie erlebt.“
Das kurze Gezerre an ihrer Person habe ihr im Schnellwaschgang die Mechanismen der Mediengesellschaft vor Augen geführt. „Da gab es auch Momente, in denen ich dachte: Lasst mich jetzt alle mal in Ruhe.“ Aber grundsätzlich sei sie froh über das Scheinwerferlicht. Deshalb nehme sie alles mit, von Interview zu Interview, sich dauernd erklären. Warum nicht? Zumal sie im Eiltempo erfahren musste, dass Skeptiker und „Hater“, also Hasskommentatoren, nicht lange auf sich warten lassen. So wurde ihrem spontan wirkenden Auftritt Kalkül unterstellt, da sich der mitsingende Fahrgast als Ozzy Lino entpuppte, ein Künstler aus Malta. Den Zweiflern entgegnet sie, dass die Musikmesse in Frankfurt dafür gesorgt habe, dass die Musikerdichte in der S-Bahn hoch war. „Manche müssen halt das Haar in der Suppe finden.“ Der Auftritt sei echt und habe Leuten den Tag versüßt, nur das zähle. Das und 66 Millionen Klicks.
Sie will sich jetzt auch nicht zu viel reinquatschen lassen. Der Rat der Eltern und des Freundes reichen. Denn wenn ihr S-Bahn-Hit eines gezeigt habe, dann, dass kein Plan, kein sorgsam erdachtes Image Momente der Wahrhaftigkeit ersetzen können. Blöd wäre nur, sagt sie, wenn sie als Mädchen aus der S-Bahn in die Geschichte einginge. Daran wird sie nun arbeiten müssen.
• Dieser Text ist zuerst im Hamburger Abendblatt erschienen