Dortmund. Bisher wurde das Thema Zwangsehe vor allem aus der Perspektive der Frauen betrachtet. Doch es gibt auch Männer, die gegen ihren Willen verheiratet werden. Sie sprechen nur selten über ihr Leid. Ali Akdeniz hat die Ehe mit der ungeliebten Cousine krank gemacht.
„Mein Leben ist vorbei“, sagt Ali Akdeniz*. Das sagt er, nachdem er 30 Jahre lang mit einer Frau zusammengelebt hat, die er nicht liebt. 30 Jahre hat er still gehalten, zuerst wegen der Eltern, dann wegen der Kinder. Ali Akdeniz ist 49. Ein kleiner, leicht untersetzter Mann mit sanfter Stimme und traurigen Augen. „Ich bin wie meine Mutter, ein ruhiger Mensch“, sagt er. „Ich konnte mich nie durchsetzen.“ In der Familie habe er ganz unten gestanden. Als er fünf war, brach ihm der Vater das Nasenbein. Als er 19 war, musste er seine Cousine heiraten.
Ein halbes Jahr zuvor war der Vater alleine in die Türkei gereist. Er brachte ein kleines Foto mit. Es zeigte ein Mädchen, an das sich Ali Akdeniz nur vage erinnern konnte. Als Kind hatte er ein paar Mal im Heimatdorf mit ihr gespielt. Das sei seine Cousine und seine zukünftige Ehefrau, sagte der Vater. Als Ali sich wehrte, drohte der Vater: „Wenn du sie nicht heiratest, werde ich eure Mutter verlassen.“ Er wusste genau, dass er den Sohn an diesem Punkt am härtesten treffen würde. Noch heute spricht Ali Akdeniz voller Bewunderung von seiner „Mama“. Sie allein habe die Familie zusammengehalten. „Sie wusste nichts davon“, sagt er. „Ich habe es für sie getan.“
Völlig auf sich allein gestellt
Schicksale muslimischer Mädchen, die zwangsverheiratet werden, die bedroht, geschlagen oder gar ermordet werden, wenn sie sich dem Willen ihrer Familien widersetzen, sind bekannt. Ein Viertel der türkischen Frauen lernt den Ehemann erst bei der Hochzeit kennen. Das zeigt eine Studie im Auftrag des Bundesfamilienministeriums. Neun Prozent gaben an, zur Ehe gezwungen worden zu sein. Die Perspektive des Mannes hat dagegen bisher kaum jemanden interessiert. „Man ging einfach davon aus, dass Männer von arrangierten Ehen nur profitieren“, sagt Ahmet Toprak, Pädagogik-Professor an der Fachhochschule Dortmund und Experte für deutsch-türkische Migrantenfamilien.
Doch Ali Akdeniz Geschichte ist kein Einzelfall. Im Mädchenhaus Bielefeld gibt es seit 2007 die bundesweit erste Online-Beratung gegen Zwangsheirat. Im vergangenen Jahr haben hier nicht nur Frauen, sondern auch 28 Männer Hilfe gesucht. Auch Kazim Erdogan kennt einige Fälle von jungen Männern, die von ihren Familien in eine Ehe gedrängt wurden – mit Erpressung und Gewalt. Der Psychologe betreut in Berlin-Neukölln ehrenamtlich eine der ersten Beratungsgruppen für türkische Väter. Von 30 Männern hätten alleine vier ihre Hochzeit als Zwang empfunden, sagt er.
„Die Männer waren bisher völlig auf sich allein gestellt“, sagt Kazim Erdogan. „Sie tragen ihre Sorgen in die Moschee und beten.“ Darüber zu sprechen ist fast unmöglich. Es widerspricht ihrem Bild vom starken Mann und Familienvater. „Der Leidensdruck muss sehr groß sein“, sagt Erdogan. So wie bei Ali Akdeniz. Er möchte seinen richtigen Namen nicht nennen. Seine drei Kinder dürfen nichts von der Zwangsheirat erfahren. Sie würden sonst denken, dass er sie nicht liebt. Dass sie eine Pflichtübung waren in einem Leben, das ganz im Dienst der Familienehre stand. Es war das Leben eines Blinden und Stummen. „Alles ist nur an mir vorbeigelaufen“, sagt Akdeniz. „Wenn ich zurückschaue, kommt mir jeder Tag gleich vor.“
„Liebe mit einer engen Verwandten, das war ein großes Problem“
Zur Hochzeit in der Türkei war das ganze Heimatdorf eingeladen. 3000 Menschen haben mit dem Brautpaar gefeiert. „Ich kam mir wie im falschen Film vor“, sagt Ali Akdeniz. „Ich habe völlig verdrängt, dass es da um mich ging.“ Nach der Hochzeit war schnell klar, dass er und seine Cousine nicht zusammen passten. Sie hatten keine gemeinsamen Interessen, konnten kaum miteinander reden. Auch erotisch fühlten sich die beiden nicht zueinander hingezogen. „Liebe mit einer engen Verwandten, das war ein großes Problem für mich“, sagt Ali Akdeniz. Das Paar lebte bei Akdeniz Eltern. Er stand weiter unter der Knute des Vaters. Eine Trennung war undenkbar.
Bis heute kann er dem Vater nicht verzeihen, dass er ihn, den Jüngsten, geopfert hat, während seine Geschwister ihre Ehepartner frei wählen durften. Die Cousine aus Anatolien sollte durch die Heirat mit Ali die Chance bekommen, in Deutschland zu leben. „Hochzeiten mit engen Verwandten sind üblich. Das wird als ein Weg gesehen, der Familie zu helfen“, sagt Ahmet Toprak. Auch wenn ein junger türkischer Mann ein zu offenes Leben führt, trinkt, Drogen nimmt oder viele Freundinnen hat, kann die Heiratsfalle zuschnappen. „Dann sieht die Familie die Hochzeit als Disziplinierungsmaßnahme“, sagt Toprak. Betroffen sind zudem Homosexuelle. „Sie werden zwangsverheiratet, um das bürgerliche Image der Familie zu bewahren“, sagt Toprak. Viele Schwule führen nach der Hochzeit ein Doppelleben, doch die Fassade bleibt bewahrt.
Männer führen Doppelleben
Toprak stammt selbst aus der Türkei und hat als erster Wissenschaftler türkische Männer zum Thema Zwangsheirat befragt. Das Ergebnis: Sie kommen mit Zwangsehen meistens besser klar als Frauen. „Männer haben viel mehr Möglichkeiten, der Situation zu entfliehen, da sie weniger kontrolliert werden“, sagt Toprak. Im Gegenteil: Seitensprünge oder Liebesbeziehungen der Männer würden häufig stillschweigend geduldet. Für die zwangsverheiratete Frau dagegen wird die Ehe oft zum Gefängnis.
Ali Akdeniz floh in seine Arbeit. Er war Staplerfahrer. „Die Arbeit war für mich die einzige Freude“, sagt er. „Da hatte ich meine Ruhe.“ Doch vor ein paar Jahren hatte er einen Schlaganfall. Seitdem ist er frühpensioniert. Seine Eltern sind tot. Er braucht psychologische Hilfe. Einen Ausweg sieht Akdeniz nicht. „Ich habe keine Kraft mehr, noch irgendetwas zu ändern“, sagt er. Außerdem soll die Familie zusammenbleiben. Seine älteste Tochter ist inzwischen auch verheiratet. „Natürlich hat sie sich ihren Ehemann selbst ausgesucht“, sagt er. „Das hatte ich mir geschworen.“ Ali Akdeniz war immer zu brav, zu pflichtbewusst für den Ausbruch. Deshalb sagt er heute: Mein Leben ist vorbei.
*Name von der Redaktion geändert