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„Ich kapiere manchmal nicht, dass das für immer ist“

„Ich kapiere manchmal nicht, dass das für immer ist“

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Beim Germanwings-Absturz verlor Steffi Assmann ihre Tochter. Im Interview spricht sie über den letzten Kontakt vor der Katastrophe.

Haltern. 

Linda Bergjürgen wäre jetzt in Texas. Die Schülerin wollte die Welt kennenlernen. So war der Plan, der vom Schicksal aufs Grausamste durchkreuzt wurde. Linda ruht auf einem Friedhof in ihrer Heimatstadt Haltern. Sie saß im Germanwings-Flug 4U9525, der vor einem Jahr von Co-Pilot Andreas Lubitz zum Absturz gebracht wurde. Die 15-Jährige gehört zu den 149 Opfern. Kurz vor dem Jahrestag sprach ihre Mutter Steffi Assmann über das vergangee Jahr – und die Zukunft.

Wie werden Sie den Jahrestag verbringen?

Steffi Assmann: Wir reisen nach Frankreich, an den Absturzort in den Bergen. Um 10.41 Uhr, der Absturzzeit, wird es eine Schweigeminute geben. Die Namen der Opfer werden verlesen, wir singen. Ich weiß nicht, wie es wird, aber ich bin froh, mit den anderen Angehörigen dort zu sein. Den Tag Zuhause zu verbringen, wäre fürchterlich.

Wie haben Sie vor einem Jahr von der Katastrophe erfahren?

Steffi Assmann: Mein Mann Willi hatte es bei meinem Vater im Fernsehen gesehen. Er kam dann reingestürmt und schrie, das Flugzeug ist abgestürzt. Mir war sofort klar, dass Linda tot ist. Man hat so ein Gefühl. Und ich hatte keine Hoffnung. Ich bin sonst eine Heulsuse, konnte aber in dem Moment nicht heulen. Dafür habe ich mich geschämt. Ich war wie in einer Blase. Wir sind zur Schule gefahren, waren mit die Ersten. Ich bin die ganze Zeit Runden in einem großen Raum gelaufen. Keiner wusste was. Um 15 Uhr gab es die Pressekonferenz mit der offiziellen Information. Ich hatte Linda noch um 12.20 Uhr eine SMS geschrieben.

Wie fühlte sich der letzte Kontakt an?

Steffi Assmann: Diese Banalitäten des Alltags sind so schön und vergraben im Kopf, wie ein Tagebuch, gespeichert in diesem komischen Film, der seit einem Jahr läuft und in dem dich der Bundespräsident in den Arm nimmt. Wissen Sie, wir sind ganz normale Menschen. Man denkt immer, das passiert nur anderen. Vor der Abfahrt zum Abflug nach Spanien ging Linda aus dem Haus, hat „Tschüss, Tschüss“ gerufen. Ich sehe sie noch auf dem Beifahrersitz, rückwärts aus der Einfahrt fahren. Ich habe ihr morgens am Rückflugtag noch eine Handy-Nachricht geschrieben. „Wir sind im Bus. Ich schicke nachher Bilder“, hat sie geantwortet. Meine letzte Nachricht vor dem Start hat sie nicht mehr gelesen.

Was folgte auf den Unglückstag?

Steffi Assmann: Ein Leben unter einer Glocke. Meine Freundin Eva ist sofort gekommen und Klaus, ein Freund von Willi. Die haben sich um uns gekümmert und unseren Sohn Christian versorgt. Ich konnte essen, habe geschlafen, durchgeschlafen und mich dann gefragt, wie ich das machen kann, wenn mein Kind tot ist. In den nächsten Tagen hatte ich null Zeitgefühl, nahm Tabletten, habe sie aber wieder abgesetzt, weil ich alles bewusst erleben wollte. Wir hingen in der Luft. Dein Kind ist tot, es ist passiert, und du kannst nichts machen. Alles war so verschwommen. Ich habe einem Freund von einem Gottesdienst erzählt. Er sagte, ich saß doch neben dir. Es war schnell klar, dass die Begleitumstände besonders tragisch waren. Der absichtliche Absturz. Außenstehende macht das vielleicht fassungslos. Aber tot ist tot. Was kann noch schlimmer sein? Die Umstände waren sehr bitter, aber die Trauer hat alles beherrscht.

Wie hat sich die Germanwings-Muttergesellschaft Lufthansa verhalten?

Steffi Assmann: Die einzelnen Mitarbeiter haben versucht, zu helfen. Sie waren bemüht. Was uns weh tut: Bis heute hat keiner der Lufthansa den Weg an unsere Tür gefunden. „Hallo. Ich bin der Herr X oder Frau Y. Wir kümmern uns um Sie. Wir sind für Sie da.“ Das ist doch das Naheliegendste. Und manche Sachen gingen gar nicht. Die ersten SMS waren alle in Englisch. Und eine Woche nach dem Absturz wurden wir per SMS an das Unglück erinnert. Eine Woche später wurde wieder per SMS die Absturzzeit korrigiert. Danach war Ruhe.

Wann kehrte etwas Stabilität zurück? Zur Beerdigung im Juni?

Steffi Assmann: Mit dem Sarg wurde wieder etwas real. Die Hoffnung, was von Linda zu haben, neben dem Haargummi, zwei Blusen, einem Handtuch und einem Schuh, die an der Absturzstelle gefunden wurden. Als wir im Bus hinter den weißen Wagen durch Haltern gefahren sind, standen links und rechts Menschen, alles war voll und mucksmäuschenstill. Sie haben geweint und sich verneigt. Das war so ergreifend, das kann ich nicht beschreiben. Diese Minuten werde ich nie vergessen. Das war ein schöner Moment in diesem Grauen. Wir haben danach eine Trauerfeier gemacht, ich wollte Lindas Freundinnen anlocken, die mir von ihr erzählen. In dem Alter sprechen Töchter mit ihrer Mutter ja nicht über alles. Einige sind gekommen. Für sie war es auch sehr schwer. Nach dem Absturz hat sich ein Junge gemeldet, Jakob, mit dem Linda geschrieben hatte und von dem wir nichts wussten. Es kam aus dem Nichts, wie eine Botschaft aus dem Jenseits.

Ist nach der Beerdigung mehr Normalität wiedergekommen?

Steffi Assmann: Es gibt noch lange keine Normalität. Morgens habe ich immer zwei Kinder fertig gemacht. Sie sind dann immer zusammen gegangen. Um zwanzig nach eins kam mittags immer der Zug. Alle Kinder steigen aus. Nur Linda nicht. Es gibt Tage, an denen ich nur weinen könnte. Dann begegnen mir Menschen und es wird wieder besser. Und da sind normale Momente zwischendurch. Die helfen sehr. Aber dann ist ein Geburtstag, Weihnachten, Erinnerungen, Schmerz. Ein Lied von Amy MacDonald, Amy Winehouse oder Bruno Mars, die hörte sie so gerne, läuft im Radio. Ich bin sofort bei ihr. Es kommt alles zurück. Deshalb sind wir bei Musik oft traurig. Ich merke dann besonders, wie sie fehlt. Ich spüre sie fast neben mir, sie ist aber nicht da. Manchmal möchte man sich quälen. Oder man muss sich selbst überlisten. Auf Autofahrten höre ich Hörbücher. Es ist ein Auf und Ab, durch das wir stolpern. Wellen, wie bei Grönemeyers „Mensch“: Nach der Ebbe kommt die Flut. Das ist banal. Aber passt einfach so gut.

Wie wichtig ist die Angehörigengruppe der betroffenen Eltern, mit der Sie sich regelmäßig treffen?

Steffi Assmann: Sehr wichtig. Dort fühlen wir uns gut aufgehoben, dort sind Dinge erlaubt, die sonst nicht erlaubt sind. Wir lachen auch mal, sind albern, ausgelassen. Wir haben alle Kinder verloren. Das ist etwas Besonderes. Ich will nichts anderes schmälern. Aber es kamen Menschen, die sagten, sie hätten einen Angehörigen verloren und sie würden wissen, wie ich mich fühle. Ich habe gedacht, das weißt du nicht. Ich verüble das aber niemandem.

Nicht weit von Lindas Grab in Haltern ist eine Gedenkstätte.

Steffi Assmann: Es ist für mich der realste Ort. Ich stehe da und denke, da ist sie. Obwohl ich manchmal nicht kapiere, dass das für immer ist. Es ist ein schöner schmerzhafter Ort auf einem schönen Friedhof. Ein Platz zum Trauern, ein Platz der Begegnung. Die Gedenkstätte vermittelt Ruhe, es sind immer Leute da, die Kerzen anzünden. So werden unsere Kinder nicht vergessen. Ich fühle mich wohl, wenn ich dort Menschen treffe. Eine Frau hat mich neulich angesprochen. „Ganz Haltern ist bei Ihnen.“ Das finde ich schön.

Welche Rolle spielt die Kirche? Wie wichtig ist der Glaube?

Steffi Assmann: Unser Pfarrer Karl Henschel war und ist uns eine große Hilfe. Er war von der ersten Minute an da. Ich möchte gerne glauben, aber ich kann im tiefsten Inneren nicht an einen Gott glauben, der so etwas zulässt. Mir tun Predigten gut. Und die richtigen Worte, die geben Hoffnung. Ich zünde in Lindas Zimmer abends Teelichter an. Es klingt spirituell, aber ich habe manchmal das Gefühl, sie schaut vom Himmel auf uns herab. Der Wunsch ist groß und da ist diese starke Sehnsucht, sie wiederzusehen. Gepaart mit dem Gedanken der Enttäuschung, dass da nichts mehr kommt. Ich habe noch nicht alles verinnerlicht. Es ist aber passiert und damit gilt es klarzukommen. Der Verstand hat von der ersten Sekunde an gesagt, dass es vorbei ist. Damit kommt das Herz aber nicht klar. Ich schreibe Botschaften für Linda auf Kerzen, die auf das Grab stelle. Sie fehlt mir so.