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Ein Seniorenstift für Schwule

Ein Seniorenstift für Schwule

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Foto: Thomas Koehler/photothek.net
In Berlin gibt es seit kurzem die erste Wohngemeinschaft für Homosexuelle. Es sind vor allem Künstler, die auch im Alter auf ihr selbstbestimmtes Leben nicht verzichten wollen.

Berlin. 

Peter Sibley ist siebzig. „Was?“, lacht sein Zimmernachbar. „So ein alter Knacker?“ Rainer Schäl richtet sich im Rollstuhl auf. Er ist 67. Der Schlaganfall hat ihm die Beine gelähmt, aber den Humor verschont. Seit einem Monat leben die beiden mit sechs anderen schwulen Senioren in einer Berliner Wohngemeinschaft für pflegebedürftige Homosexuelle. Es ist ein einzigartiges Experiment – und bis jetzt läuft es recht gut.

Natürlich nicht immer. Krach, Eifersucht und Querulanten gibt es in jeder WG. „Nicht mal die Butter wollte mir der Choleriker heute morgen geben“, regt sich Schäl über einen Mitbewohner auf. „Man erkennt schon genau, wie die Leute erzogen wurden.“ Sibley, der Brite, löst solche Szenen meistens elegant: „Meine Rettung ist das Restaurant. Man muss nicht zusammen hier oben essen.“

Den dementen Musikprofessor im Zimmer gegenüber finden die beiden dagegen nett. Neulich hat er Schuberts „Forelle“ für alle gesungen. An seiner Zimmertür hängt ein verblichenes Konzertplakat mit seinem Namen.

Künstler, Theaterleute, Manager von Cat Stevens

Sibley war bei der Shakespeare Company in London, hat als Manager von Cat Stevens und Dusty Springfield gearbeitet, später als Sprachtrainer in Deutschland. „Kannst du auch Italienisch?“, unterbricht ihn Schäl neugierig. „Klar, bringe ich dir bei.“ Schäl ist in der DDR groß geworden, war Marinesoldat, später Kostümbildner an der Berliner Staatsoper. Nach einem Schlaganfall hat er vier Tage unbemerkt in seiner Wohnung gelegen. Als er aus dem Krankenhaus kam, war klar: „Ich kann nicht mehr alleine leben.“

Sibley hat zuletzt mit Freunden in Hamburg gelebt. Schlaganfall. Rollstuhl. Auch er sieht: Es geht nicht mehr ohne professionelle Hilfe. Sibley hat im Internet gesucht, hat „schwul“ und „betreutes Wohnen“ eingegeben. „Ich war nie ein besonders guter Nachbar.“ Seine braunen Augen schauen konzentriert durch die hellblau gerandete Brille. „Aber ich bemühe mich jetzt, einer zu sein.“ Sibley will seinem WG-Kollegen Schäl demnächst mal den Balkon bepflanzen. „Davon hat er keine Ahnung.“ Und dann ist da noch die Theatergruppe — da haben sie sich jetzt angemeldet. Staatsoper, Shakespeare Company, man ist schließlich vom Fach.

Seit vier Wochen ist die WG voll. Acht schwule alte Männer leben hier, drei von ihnen sind dement. Die Wohnung liegt in einem sechsstöckigen Altbau mit rosa Fassade. Das Haus gehört heute der Berliner Schwulenberatung. Früher war es ein Familienzentrum. Mit Kita, Nähkursen und Beratung. Nach sechs Jahren Leerstand ist es das jetzt wieder: Mit dem Unterschied, dass keine Kinder mehr kommen, sondern Alte und Kranke. Neben der Pflege-WG gibt es im Haus 24 Mietwohnungen – ein Mehrgenerationenhaus vornehmlich für Homosexuelle. Kaum eröffnet, schon ausgebucht. Auf der Warteliste stehen 200 Namen.

Auch im Alter selbstbestimmt

Ein Seniorenstift für Schwule? „Dass ich das noch erleben muss!“ Im gutbürgerlichen Charlottenburger Kiez gab es nicht nur Jubel. Manche Nachbarn hatten schlicht Angst davor, „dass dann den ganzen Tag die jungen Stricher vor der Tür stehen“, sagt Pascal Ferro von der Schwulenberatung. Inzwischen überwiegt aber die Neugier: Das Restaurant „Wilder Oscar“ im Erdgeschoss soll ein Kieztreff werden. Und sie kommen alle her – aus München und Hamburg, Skandinavien und Holland. Und wollen wissen: Was taugt das Berliner Modell?

Die erste Generation der Individualisten wird alt. Achtundsechziger, Hippies, Schwule – wer sein Leben lang selbstbestimmt sein wollte, will es im Alter nicht aufgeben. „Und er will von jemandem gepflegt werden, der seine Lebensweise kennt“, sagt Dieter Schmidt von der Schwulenberatung. Nicht von jemandem, der dreimal nach Enkelkindern fragt.

Sie haben sich lange genug verstecken müssen

Zu Schäl und Sibley kommt deshalb ein Pflegedienst, der nur schwule Mitarbeiter in die WG schickt. Das sei wichtig, sagt Schmidt. Eine Frage der Wellenlänge. „Es gibt eine Art von schwulem Humor, mit dem Heterosexuelle nicht umgehen können.“ Anzüglicher, direkter. „Wir wollen uns im Alter nicht verstecken müssen.“ Die meisten haben das lange genug getan. Sie sind zwischen 60 und 70 Jahren, haben noch unter Paragraf 175 gelitten.

Auch Bernd Gaiser wollte im Alter dort leben, wo Schwulsein normal ist. Der 67-jährige ehemalige Buchhändler hat eine Wohnung im sechsten Stock gemietet. „Wir sehen ja an den Debatten um die Homo-Ehe, dass schwules Leben noch längst nicht selbstverständlich ist.“

Gaiser macht sich derweil nützlich. Organisiert Fahrten zum Schwimmbad oder begleitet Peter Sibley zum Arzt. Der liebt es, vor die Tür zu kommen, Bekanntschaften zu machen. Vielleicht noch mal eine große Liebe erleben? „Wenn’s passiert, dann passiert’s“, sagt der Brite. „Ich habe beide Augen offen. Ich bin ansprechbar.“