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Der Mann ohne Hass

Der Mann ohne Hass

Hamburg. 

Antoine Leiris (35) sitzt auf der Couch des „Hyatt Hotels“ in Hamburg. Er trägt ein Cordsakko, trinkt Mineralwasser. Vor einem halben Jahr wurde seine Frau bei den Anschlägen in Paris ermordet, er sagt, er fühle keinen Hass. Immer noch nicht.

Genau wegen dieser Haltung wurde Leiris über Nacht berühmt. Er fand die richtigen Worte, in einer Nacht, in der Paris in Schweigen gehüllt war. Es war die Nacht des 13. November 2015. 130 Menschen starben. Unter ihnen: Luna-Hélène Muyal, die Frau von Antoine Leiris und Mutter des einjährigen Melvil. „Meinen Hass bekommt ihr nicht“, schrieb der Witwer auf Facebook. Ein Satz, der 200 000 Menschen erreichte und den Journalisten zur Stimme der Franzosen machte.

Leiris schrieb darüber. „Meinen Hass bekommt ihr nicht“ (Blanvalet) ist eine 144 Seiten starke Abhandlung wie ein Tagebuch über die ersten zwölf Tage nach dem Tod seiner Frau. Es soll in neun Sprachen übersetzt werden und ist in Frankreich bereits ein Bestseller. „Ich hätte dieses Buch nicht länger als die zwei Monate, die es gebraucht hat, mit mir herumtragen können“, sagt Leiris. Während er spricht, blickt er ins Leere. Als würde er ein auswendig gelerntes Gedicht vortragen. Nur manchmal schaut er seinen Gesprächspartner an.

Die Liebe seines Lebens sei ihm geraubt worden, schrieb er damals, er wandte sich direkt an die Terroristen. „Sicher habt ihr es darauf angelegt, doch auf diesen Hass mit Wut zu antworten, das hieße sich derselben Ignoranz ergeben, die aus euch das gemacht hat, was ihr seid“, schrieb er in seinem Posting auf Facebook. Hass sei lediglich ein Geschenk an die Terroristen. Dass das so ist, glaubt er auch heute noch.

Über seinen mittlerweile fast zweijährigen Sohn schrieb er damals: „Sein Leben lang wird dieser kleine Junge euch beleidigen, weil er glücklich und frei ist. Denn auch seinen Hass bekommt ihr nicht.“

Gefolgt von dieser Überzeugung versucht Leiris, der als freier Radiojournalist arbeitet, so weiterzumachen wie zuvor. „Mein Sohn geht jeden Tag von 9.30 bis 15.45 Uhr in den Kindergarten. Ich arbeite, lebe weiter, lasse alles auf mich zukommen.“ Die kleinen Dinge, wie den Alltagsnöten seiner Freunde zuzuhören, das ist das, was er brauche.

Beim Schreiben war er noch einmal mit seiner Frau zusammen

Im Alltag mit Melvil schaue er sich Fotos von Hélène an, spreche mit seinem Sohn über sie. „Ein Kinderpsychologe sagte mir, dass er es mit wachsendem Alter langsam begreifen wird und ich einfach darauf eingehen soll“, erzählt Leiris. Das Schreiben des Buches sei keine Hürde gewesen, sagt er. „Es waren Stunden, die ich mit Hélène alleine verbringen konnte.“ Als er die letzte Seite geschrieben hatte, war er dennoch resigniert. „Ich dachte, ich würde dieses Buch schreiben und meine schlimmste Trauer wäre weg. Aber ich habe mich selbst betrogen“, sagt Leiris.

Ob er an die Zukunft denkt? Ja, im Sommer wolle er wegfahren, in den Urlaub mit der Familie. „Wenn der Tod von Hélène nur mich betreffen würde, wäre der Sommerurlaub nicht wichtig. Aber ich habe einen kleinen Sohn, und der soll nach den Ferien auch seine Geschichte vom Strand und vom Meer erzählen können“, sagt Antoine Leiris und lächelt.