Debra Milke saß 23 Jahre unschuldig in der Todeszelle. Im Interview erzählt sie von den falschen Anschuldigungen und ihrem neuen Leben.
Berlin.
Am Donnerstag wird Debra Milke 52 Jahre alt. Ihre Haut sieht jünger aus, hell und faltenlos. Ihre Aura ist angenehm, fast weich. Die gebürtige Berlinerin hat ihr halbes Leben im Gefängnis verbracht, davon 23 Jahre in einer Todeszelle in Arizona. Sie wurde 1990 wegen Mordes an ihrem vierjährigen Sohn Christopher verurteilt. Sie soll zwei Bekannte dazu angestiftet haben. Das Gericht bezog sich auf den Bericht eines Polizisten: Debra Milke habe ihm den Mord gestanden. Die Richter glaubten ihm, nicht Milke, die stets sagte, sie sei unschuldig. Erst im März 2013 wurde das Urteil des Gerichts aufgehoben. Die zwei Männer, die ihren Sohn ermordet haben sollen, schweigen zum Tathergang. Gerade ist ihre Biografie „Ein geraubtes Leben“ (Droemer-Verlag) erschienen.
Debra Milke gibt dieses Interview im Savoy-Hotel in Berlin. Sie sieht gut aus. Nur ihr Blick verrät, etwas stimmt nicht. Manchmal hat sie Tränen in den Augen, manchmal beobachtet sie ihr Gegenüber genau. Vielleicht liegt es daran, dass sie anderen Menschen nur noch schlecht vertrauen kann. Trotzdem lacht sie manchmal laut auf und macht Scherze. Das ist ihr öffentliches Wesen. Wie geht es einem Menschen, der mehrere Tragödien auf einmal erlebt hat?
Ihre Haut ist so glatt, fast alterslos.
Debra Milke: Das liegt daran, dass ich so lange im Gefängnis war und keine Sonne abbekommen habe. Vielleicht ist das die einzig gute Sache der Haft.
Sie haben jetzt neben einem Haus in Phoenix auch eine Wohnung in Berlin.
Milke: Ja, ich habe ziemlich viele Sachen von meiner Mutter geerbt, sie starb im August 2014 an Krebs. Und weil ich auch Verwandte in Berlin habe, habe ich jetzt eine kleine Wohnung in Steglitz.
Hat Ihre Mutter zu Ihnen gehalten?
Milke: Wir haben uns nicht immer verstanden. Sie war nicht da, als ich meine Verhandlung hatte, ich musste da allein durch. Was ich nicht wusste, war, dass sie mich im Gefängnis besuchen wollte, aber die Polizisten ihr gesagt hatten, ich wolle sie nicht sehen. Erst zwei Jahre später klärte sich alles auf. Von da an hat sie mich unterstützt.
Officer Saldate, der inzwischen in Unehren entlassen wurde, hat einen Bericht über ein gefälschtes Geständnis geschrieben. Deswegen wurden Sie verurteilt.
Milke: Ich weiß nicht, warum er das tat. Aber er hat so etwas schon öfter gemacht. Mehr kann ich dazu nicht sagen, weil ich gegen ihn und die Behörden in Arizona eine Zivilklage führe. Ich würde gern eine Entschuldigung hören.
Wie konnten Sie das überleben?
Milke: Das war ein dauerhafter Alptraum. Mehrere Tragödien auf einmal. Der Tod von Christopher, dann verliere ich meine Freiheit für etwas, was ich nicht getan habe und plötzlich bekomme ich auch noch die Todesstrafe und muss um mein Leben fürchten. Was mich angetrieben hat? Ich musste rausfinden, wer mir meinen Sohn genommen hat. Auf die Polizei konnte ich mich nicht verlassen. Aufgeben war keine Option. Meine Wut war mein Benzin.
Und war die Wut auch mal weg?
Milke: Meine Gefühle fuhren in der Zeit Achterbahn. Mal fühlte ich nur Anstrengung, mal dachte ich, ist egal, wenn ich morgen früh nicht mehr aufwache.
Wie gingen Sie mit dem Schmerz um?
Milke: Vom Moment an, als ich hörte, Christopher sei verschwunden, wurde es immer schlimmer. Ich war hysterisch und stellte mir das Schlimmste vor. Mein Kopf führte mich an schwarze Plätze.
Wann haben Sie bemerkt, man beschuldigt Sie?
Milke: Als mich Polizisten nach dem Verhör nach Phönix fuhren, dachte ich erst, sie bringen mich nach Hause. Stattdessen brachten sie mich ins Gefängnis. Aber ich habe keine richtige Erinnerung mehr daran, ich stand unter Schock.
Wie ertrugen Sie die Zeit in Haft?
Milke: Ich entwickelte eine Routine, so vergingen die Tage schneller. Ich habe eine Menge gelesen. Aber ich ertrug keine Romane, nur Sachbücher und Biografien. Und ich schaute jeden Tag die Serie „The Young and the Restless“. Dazu habe ich Jura-Fernkurse belegt, um meinen Fall besser zu verstehen. Ich passte mich an und folgte den Regeln. Ich wollte den Wächtern, nachdem sie mir schon alles genommen hatten, nicht noch mehr Macht geben.
Einmal übte man Ihre Hinrichtung.
Milke: Das war absolut irreal. Ich wusste schon, es wird nicht passieren, weil meine Anwälte schon Widerspruch bei der nächst höheren Ebene eingelegt hatten. Aber als der Arzt meine Venen für die Giftspritze checkte, hatte ich trotzdem Angst. Erst als er wieder draußen war, brach ich zusammen.
Wie gingen Sie mit der Trauer um?
Milke: Ich konnte nicht wirklich um meinen Sohn trauern. Ich war in einem Zustand der Verneinung, ich dachte, er ist da draußen irgendwo. Ich konnte nichts Persönliches zulassen. Ich hätte auch mit niemanden reden können, sogar den Psychologen traute ich nicht. Erst seit dem ich frei bin, kann ich seinen Tod zulassen. Es ist nicht einfach.
Haben Sie mit einem der mutmaßlichen Täter noch einmal gesprochen?
Milke: Habe ich nicht. Ich kann denen nicht gegenübertreten. Sie sagen nicht die Wahrheit, sie beschuldigen sich gegenseitig aus Angst vor der Todesstrafe. Mittlerweile glaube ich, ich werde nie erfahren, was passiert ist.
Hatten die insgesamt 24 Jahre Haft irgendetwas Gutes?
Milke: Ich habe gelernt, dass ich stark bin und dass ich nach dieser Kraft tief graben kann, selbst wenn ich am tiefsten Punkt angekommen bin.
Wann wussten Sie, es geht gut aus?
Milke: Mein Anwalt hatte Jura-Studenten beauftragt, Beweise für die Lügen von Officer Saldate zu finden. Und sie fanden sie.
Sind Sie heute glücklich?
Milke: Ich kann mal lächeln und lachen. Aber richtiges Glück fühle ich nie, und das werde ich auch nicht mehr.
Können Sie heute anderen vertrauen?
Milke: Nein, das kann ich nicht. Ich führe so etwas wie eine Beziehung, aber schon das Wenigste ist mir zu viel. Ich bin meist allein und arbeite als Assistentin in der Kanzlei meines Anwalts. In meiner Freizeit bin ich die meiste Zeit in meinem Garten. Draußen an der Luft.