Vor zehn Jahren lösten David Odonkor und Oliver Neuville gegen Polen den deutschen Fußballrausch aus. Seit dem hat sich die Nationalelf verändert.
Essen.
Als der Ball im Tor landete. Das Dortmunder Stadion bebte. ARD-Kommentator Steffen Simon in sein Mikrofon brüllte: „Hier spielen sich unglaubliche Szenen ab.“ Da dachte Torschütze Oliver Neuville noch nicht daran, gerade deutsche Fußballgeschichte geschrieben zu haben. „Es war ein Tor wie meine anderen. Ich war froh, dass wir gewonnen hatten. Mehr nicht“, sagt der 43-Jährige heute: „Erst danach habe ich gemerkt, wie wichtig der Treffer war.“
Denn: Das 1:0 in der 91. Minute gegen Polen bei der Weltmeisterschaft 2006 war mehr als nur der Siegtreffer im zweiten Vorrundenspiel für Deutschland. Es war der Urknall des Sommermärchens. Das ganze Land fieberte nach diesem Spiel mit der Mannschaft von Jürgen Klinsmann mit, die nach Jahren des Rumpelfußballs so spielte, wie es ihr Trainer versprochen hatte: offensiv, modern, hoch verteidigend.
Irgendwie landete der Ball im Tor
Gegen Polen reihte sich eine Chance an die andere. Doch die 65 000 Fans im Stadion und die Millionen Zuschauer vor dem Fernseher wurden erst in der ersten Minute der Nachspielzeit erlöst. David Odonkor rannte, flankte, Oliver Neuville grätschte, und irgendwie landete der Ball im Tor. Ekstase. Die deutsche Fußballnation wurde ausgerechnet von zwei Ersatzspielern wachgeküsst.
Zehn Jahre später trifft Deutschland bei der Europameisterschaft wieder auf Polen. Zehn Jahre, in denen Bundestrainer Joachim Löw den Offensiv-Fußball verfeinert, ihn zur DNA der Nationalmannschaft gemacht hat. Der Weltmeister von 2014 gilt als Favorit auf den EM-Titel. „Die deutsche Mannschaft gehört zu den Besten“, erklärt auch Oliver Neuville: „Sie hat sich spielerisch noch mal weiterentwickelt.“
Die beiden Helden der Polen-Partie spielen bei der Nationalelf schon lange keine Rolle mehr. Ihre Karriere ist vorbei. Neuville arbeitet als Co-Trainer bei der U19 von Borussia Mönchengladbach. David Odonkor ist der Sportliche Leiter des Oberligisten Hammer Spielvereinigung. Der moderne Profi-Fußball findet ohne die Beiden statt.
Bei der WM 2006 wurden die speziellen Typen noch gefeiert. Der eine: Oliver Neuville. 33 Jahre alt. Im Herbst seiner Karriere. Jürgen Klinsmann nominierte den Stürmer von Borussia Mönchengladbach trotzdem, wechselte ihn in jedem Spiel ein. „Er wusste, dass ich immer alles gebe.“
Der andere: David Odonkor. Der Flügelflitzer von Borussia Dortmund. Seine Berufung in den deutschen WM-Kader war die große Überraschung. Der damals 22-Jährige sollte rennen, flanken und Chancen ermöglichen. Das klappte – vor allem gegen Polen. „Das Spiel war das größte Highlight meiner Karriere. Die Stimmung nach diesem Tor in Dortmund war sensationell“, erzählt Odonkor zehn Jahre später.
Der Stern des Vorbereiters ging damals plötzlich auf. Doch er verglimmte schnell. Nach der WM wechselt Odonkor vom BVB zum spanischen Klub Betis Sevilla. Ein fünfjähriges Missverständnis, geprägt von zahlreichen Verletzungen. Bei Alemannia Aachen und dem ukrainischen Verein FC Hoverla-Zakarpattya Uschhorod versuchte der Offensivspieler, seine Karriere zu retten. Vergeblich. Bereits im Alter von 29 Jahren hörte Odonkor mit dem Fußball auf. „2013 ging es einfach nicht mehr. Ich habe noch heute Schmerzen. Mein Arzt sagt, dass ich das Knie eines 50-Jährigen habe“, sagt er.
Den Offensivfußball prägten andere
Bei der Europameisterschaft 2008 schafften es Oliver Neuville und David Odonkor noch einmal in den Kader der deutschen Nationalelf. Ein Spiel durften sie unter dem neuen Trainer Löw machen. Mehr nicht. Odonkor und Neuville haben die deutsche Fußball-Nation wachgeküsst. Doch den Offensivfußball der folgenden Jahre prägten andere Spieler.